GASTDENKER

The Teenage Guide to Popularity

29. Juli 2016

gastgedacht von Christina Vogler

WARUM WIR DEN SOGENANNTEN ISLAMISCHEN STAAT IMMER NOCH FALSCH VERSTEHEN
Kann man denn nicht eine Nacht in Ruhe schlafen? Wiedereinmal lese ich, zugegebenermaßen selbstverschuldet, eine Horrornachricht vor dem Schlafengehen. Dieser Vorgang wiederholt sich „dank“ der sozialen Medien fast täglich. Der IS beansprucht also das Attentat in Würzburg für sich, genauso wie in Nizza, erst kürzlich wieder in Bagdad und Kabul sowie auch in Ansbach und Rouen.

Die erste Version dieses Blogbeitrags musste ich zurückfordern, anlässlich der aktuellen Anschläge in unseren Breiten. Dies zeigt jedoch nur noch deutlicher, dass sich die Orte des Geschehens mit dem Anschlagsziel unseres Beliebens ersetzen lassen, denn der Ort ist für meine Gedanken im Grunde genommen irrelevant.

Sehr häufig, wie auch in den jüngsten Fällen, gehen Experten davon aus, dass es sich um eine „Selbstradikalisierung“ der Täter handelt. Dies bedeutet, dass die meist jungen Männer nicht unter direktem Einfluss des IS stehen, sehr wohl aber indirekt mit ihm verbunden sind. Die Terroristen haben sich in vielen Fällen niemals in einem von der Terrormiliz besetzten Gebiet aufgehalten. Sie wurden auch nicht zwangsläufig strategisch von Anführern zum Kampf ausgebildet.

…und dennoch beansprucht der IS die Morde junger unbekannter Männer für sich.

Wir müssen uns von einem wesentlichen Gedanken trennen, der uns lange begleitet hat: Der IS ist keine Firma, die jeden Auftrag zu einem Anschlag an einen ihrer Mitarbeiter vergibt und per Unterschrift ein Konzept absegnet. Er schickt auch nicht alle seine Mitarbeiter auf  eine Fortbildung mit dem eingängigen Titel „Wie werde ich Terrorist?“. Der IS ist viel mehr als das. Er versteht sich als Jugendkultur (und missbraucht dafür Religion).

„If you’ll just listen to my plan: THE TEENAGE GUIDE TO POPULARITY!“ (Popular – Nada Surf)

Der IS ist wie eine Popband, wie ein YouTube-Star, der von jungen Erwachsenen angehimmelt wird. Du kannst genauso toll und hip sein, wenn du dich dafür nur richtig ausstattest. Mit Ideologie und mit Stil. Fragst du dich manchmal, wer du bist? Wer weiß das schon mit 15, 16. Das ist ganz normal. Es gibt nur einen Wunsch: Irgendwie dazuzugehören. Hör auf die Meinung deiner Stars! Sie stehen oben, werden angehimmelt, haben Macht und Geld. Und wie cool sind eigentlich ihre Fans? Willst du auch einer werden? Dann sprich wie sie! Beweg dich wie sie! Verinnerliche! Lerne die Songtexte auswendig! Kauf dir ein T-Shirt mit dem Bandlogo! Mach ein Foto von dir in deinem neuen Outfit und stell es auf Instagram! Stell deine Meinung klar in einem YouTube-Video! So wirst du beliebt. So gehörst du dazu. Du bist nicht mehr allein. Wir gehören zusammen. Lebe den Kult! Allahu-Akbar!

Ob anfänglich beabsichtigt oder nicht: Die Kultur des IS hat diese Grundlage der Manipulation verstanden und sehr früh verinnerlicht. Nun ist sie ein Selbstläufer.

Der Aufwand ist nunmehr minimal für die Drahtzieher der Terrororganisation, die Wirkung jedoch riesig. Ein aktives Eingreifen in die grausamen Morde an unzähligen Kindern, Frauen und Männern ist nicht mehr nötig, da der IS durch seine selbsterklärten Mitglieder bereits zur Legende wurde. Ein einfaches „Der gehört zu uns!“, welches von den westlichen Medien als kläglicher Erklärungsversuch freudig reproduziert wird, reicht, um schlaflose Nächte zu verursachen und neue Stars hervorzubringen.


christina voglerChristina Vogler hat Internationale Entwicklung und Humangeographie in Wien und Bangkok studiert und arbeitet derzeit als Forschungsprojektassistentin am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse in Laxenburg sowie als Praktikantin der Zeit im Bild im ORF.
Ihre Gedanken wurden durch das Buch „Die Dschihad Generation – Wie der apokalyptische Kult des Islamischen Staats Europa bedroht“ von Nahostexpertin Petra Ramsauer inspiriert.

Portraitfoto: ©Sandra Pummer
Titelfoto: ©Stefanie Sargnagel/Falter

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