Moritz Jahoda ist Begründer des Zentrums für angewandte Neugier, der Schule der Neugier, des Vereins Machbarschaft, der Bankgespräche und vieles mehr. Als selbsternannter Fragologe hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Fragen zu verschenken und setzt damit einen bewussten Kontrast zu unserer von ihm kritisierten „Antwort-orientierten“ Gesellschaft. Er selbst bezeichnet sich als Tausendsassa, durch sein vielseitiges Tun und Wirken wird er dieser Beschreibung auch mehr als gerecht. Das ist es auch, was ihn ausmacht: Er macht, während andere nur davon reden. An einem verregneten Maitag haben ich Moritz Jahoda in seinem lichtdurchfluteten Wintergarten getroffen, um mit ihm über einen wichtigen Bestandteil seiner Identität zu sprechen: Neugier.
Andreas Kirchner: Was bedeutet Neugier für Dich persönlich?
Moritz Jahoda: Für mich ist die Neugier ein wichtiger Bestandteil meines menschlichen Seins. Ich würde sogar so weit gehen, dass sie ein wichtiger Bestandteil meiner Identität ist. Sie ist definitiv auch ein starker Antrieb im täglichen Leben. Ich habe irgendwo gelesen, dass die Neugier definiert wird als der Antrieb abseits jeglicher Belohnung. Beispielsweise in der Schule: Viele lernen und bemühen sich gerne – also sind unter Anführungszeichen neugierig – weil sie dann eine gute Note bekommen. Oder ein Journalist, wenn er vermeintlich neugierig ist, wenn er interessante Menschen findet, dafür aber eine Gage bekommt. In den seltensten Fällen ist es dieser intrinsische, dieser lebendige Wille zu lernen und zu wachsen ohne jedwede Belohnung, das ist die Neugier.
Du schreibst auf Deiner Webseite, „Neugier ist eine menschliche Eigenschaft, die uns zuerst in die Wiege gelegt wurde und in den Jahren darauf meist wieder ausgetrieben wird“. Wurde sie Dir ausgetrieben oder ist es Dir gelungen, Deine kindliche Neugier bis jetzt durchgehend zu behalten?
Ich wollte herausfinden, warum ich neugierig bin und so viele andere Menschen nicht. Wo liegt das begründet? Ich habe einmal zu Prof. Roland Girtler Kontakt aufgenommen, der bekannterweise eine große Neugiersnase ist und sich in viele Mikrokosmen begeben hat, um diese zu erforschen, was er auch großartig gemacht hat. Ich habe ihm die Frage gestellt, woher seine Neugier kommt und wie wir sie wieder erlernen können. Er war irgendwie ganz erbost und meinte, dass man das nicht wieder erlernen kann, Neugier sei immer da. Ich bin da anderer Meinung. Neugier ist nicht mehr da, sie wird wirklich abgelernt. Bei mir war es so, dass ich in einer entscheidenden Phase meines Lebens plötzlich alleine dagestanden bin. Ich bin in Oberösterreich aufgewachsen und aufgrund von familiären Gründen musste ich nach Wien ziehen und bin in einer fremden Stadt gestanden mit Verwandten, mit denen ich wenig anfangen konnte. Mit 15 habe ich begonnen, mich in die Stadt zu begeben. Wie viele Jugendliche hatte ich meine Kopfhörer auf und bin durch die Stadt gewandert. Irgendwann merkte ich, dass es hier eigentlich sehr spannend ist. An diesen Moment kann ich mich noch genau erinnern. Ich ging über die Kärntner Straße, habe den Kopf gehoben und hab diese schönen Fassaden gesehen, die es dort teilweise gibt. Ich habe die Kopfhörer abgenommen und gemerkt, dass es Straßenmusiker gibt. So bin ich von diesen Trampelpfaden weggekommen und in die Seitenstraßen gegangen. Mit den Jahren habe ich Wien besser kennengelernt als manche Wiener. Ich war aufgrund meiner persönlichen Situation so verzweifelt, habe mir aber gedacht, dass ich die Situation nicht ändern kann und wollte das beste daraus machen und habe einfach die Stadt entdeckt. Plötzlich war es nicht mehr so schlimm für mich. Wahrscheinlich habe ich zu diesem Zeitpunkt meiner Neugier wieder Raum gegeben. Überspitzt gesagt, um zu überleben. Von da an ging es immer weiter. Ein paar Jahre später habe ich im Hotel Sacher gearbeitet und mein Chef bat mich darum, einen Newsletter zu machen. Ich wollte aber nicht nur über das Hotel berichten, sondern den Leuten auch erzählen, was man in der Stadt so alles machen kann, was sich hier so tut. Das ist irrsinnig gut angekommen. Die Leute können selbst nicht mehr die schönen Dinge finden. Wir haben die tollsten Tools zur Verfügung, Suchmaschinen, die uns helfen, wirklich alles sichtbar zu machen, aber sie schaffen es nicht, diese Tools zu bedienen. Dann kommen Leute wie ich zum Schuss, weil sie ihnen diese Informationen bieten können, die sie eigentlich selber auch finden könnten. Durch meine Lebenssituation habe ich es wiederentdeckt und genossen, neugierig zu sein. Das habe ich dann unbewusst 2005 weiterentwickelt, als ich für dieses Hotel für Key Accounting zuständig war, somit in Österreich herumgefahren bin und Firmen besucht habe, die in dem Hotel die Gäste einquartiert hatten. Ich wollte aber nicht mit den Kunden immer nur über unser Hotel reden, so habe ich ihnen einfach erzählt, was ich gerne mache und mich hat auch interessiert, was die anderen gern machen. So kam eines zum anderen und wir haben Tipps ausgetauscht. Ein paar Jahre später war ich einer der ersten Propagandisten für ausgefallene Freizeittips in Gastronomie und Hotellerie in Österreich. Mit meinem Alter Ego MOimHemd habe ich tolle Restaurants und Hotels empfohlen.
Die Neugier wird uns in der Schule und in dieser digitalen Welt ausgetrieben.
Wenn ich das herunterbrechen darf, sagst Du, dass Dich Deine persönliche Verzweiflung wieder zur Neugier gebracht hat. Was treibt den Menschen die Neugier aus?
Zum einen ist es der Komfort. Es wird alles am silbernen Tablett geliefert, man muss sich kaum noch bemühen. Viele Informationen werden einem nachgeschmissen. Es ist auch die Fülle an Informationen, die die Menschen überfordert, so, dass sie einfach zu machen und erst gar nicht mehr anfangen zu suchen. Es könnte ja sein, dass man zu viel an Information findet und dann wäre man wieder überfordert. Es ist wesentlich einfacher, das zu nehmen, was einem angeboten wird. Als unsere Kinder kamen, kam natürlich auch ein Kinderwagen ins Haus. Mit einem Kind geht die Aufforderung einher, mit ihm raus zu gehen. Das braucht Frischluft! Jetzt hast du den Kinderwagen vor dir und damit einen etwas eingeschränkten Aktionsradius. Außer man packt das Ding immer ins Auto, aber das war mir zu blöd. Ich wollte nicht immer den gleichen Weg gehen. Dann habe ich recherchiert und bin draufgekommen, dass ein Lastenrad die Lösung ist. Wir sind immer wieder aufgehalten worden, weil die Leute gefragt haben, was das ist. Wonach schaut’s aus? Es ist ein Fahrrad. Die Leute waren verwundert, haben mich gefragt, ob ich das selbst gebaut habe oder ob man das kaufen kann. Ich habe ihnen geantwortet, dass man es kaufen kann und es sogar Geschäfte in Österreich gibt, die es verkaufen. Das war eine markante Situation, die mir gezeigt hat, wenn einem das nicht bei den großen Händlern dieses Landes nicht angeboten wird, existiert es nicht. Das unterscheidet mich von anderen. Wenn ich eine Lösung möchte, akzeptiere ich nicht, dass diese vielleicht gerade für mich nicht sichtbar existiert. Irgendwo gibt es diese Lösung sicher. Abseits des Komforts, ist es die Schule, die die Leute abbringt, neugierig zu sein. Wir leben nun einmal in einer Antwort-orientierten Gesellschaft. Schule will nur antworten. Zuerst stopft sie dir die Themen und den Stoff in den Kopf, die du dann zum entsprechenden Anlass – sprich Prüfung – ausspucken musst. Alles andere ist wurscht. Die Klassiker „Frog ned so bled!“ oder „Das passt jetzt da nicht her!“ kommen sehr oft, bis sich die Schüler das Fragen abgewöhnen. Das Fragen per se, ist aber eng verbunden mit der Neugier. Wenn man nicht mehr frägt, dann entwickelt sich die Neugier zurück. Wenn wir Kinder befeuern und ermutigen, Fragen – auch blöde Fragen – zu stellen, schaffen wir einen Raum, in dem Neugier wachsen und gedeihen kann. Die Neugier wird uns in der Schule und in dieser digitalen Welt ausgetrieben, in der Informationen omnipräsent sind und einem nachgeschmissen werden.
Was sind blöde Fragen?
Ich musste das jetzt sagen, es gibt keine blöden Fragen. Aber wir wissen, dass das oft genug gesagt wird. Ich glaube, Thomas Brezina hat sogar ein Buch über die blöden Fragen geschrieben. Das fehlt noch in meinem Bücherregal.
Ich versuche, Thomas Brezina so gut wie möglich zu umschiffen.
Vielleicht tun wir ihm unrecht, ich kenne ihn persönlich nicht. Ich kann ihn nur anhand seines Images und anhand seiner Bücher beurteilen. Ich weiß, dass unser Sohn seine Bücher frisst, ich weiß auch, dass er das eine oder andere interessante Buch schrieb, das man ihm nicht zutraut. Das ist wie bei Romy Schneider mit ihrer Sissi, die nie aus dieser Rolle herausgekommen ist. Wahrscheinlich geht es dem Brezina genauso. Ich möchte mir das durchlesen und vielleicht bilde ich mir dann eine Meinung. Habe ich Deine Frage beantwortet?
Das Selbstbewusstsein vieler kleiner Seelen wird gebrochen, weil sie anhand von Noten bewertet werden.
Ja, aber ich habe den Faden verloren. Der Brezina, dieser Hund. (Pause) Ob Du mit dem Bildungssystem zufrieden bist, brauch ich Dich eh nicht fragen. Wie müsste es aussehen, – und da komme ich natürlich auch auf die Schule der Neugier zu sprechen, die Du ins Leben gerufen hast – dass es den Kindern gelingt, ihre Neugier ins Erwachsenenalter mitzunehmen?
Wir sitzen hier in dem Raum, in dem die Schule der Neugier vor fünf Jahren ihren Anfang gemacht hat. Der Grund war einerseits der Wunsch meiner Frau, eine Veranstaltungsreihe für Kinder zu machen. Daraufhin habe ich mir überlegt, in welchem Geist diese Veranstaltungsreihe stehen soll. Zuerst haben wir privat begonnen, Veranstaltungen zu machen. Wir haben Filme und Dokumentationen gezeigt, Vorträge und Lesungen organisiert und nach einer Lesung hat meine Frau zu mir gesagt, dass sie total gerne etwas für Kinder machen will. Wir hatten eine Freundin, die Kinderbuchillustratorin ist, eingeladen, bei uns eine Lesung zu machen. Dann habe ich mir die Frage gestellt, was mich, was uns antreibt, warum wir das alles machen. Weil wir neugierig sind, weil wir gerne neue Leute kennenlernen, weil wir über den Tellerrand hinausschauen, weil wir unseren Horizont erweitern wollen. All das lässt sich in der Neugier subsumieren. Nachdem wir beide keine wirklich positive Erfahrung mit der Schule gemacht haben und sicher nicht das Schulsystem revolutionieren wollten – da haben sich andere schon die Zähne ausgebissen…
Entschuldige meine Zwischenfrage: Überhaupt keine positive Erfahrung?
Keine. Das lässt sich am besten mit einer Frage zusammenfassen, über die ich irgendwann gestolpert bin: Welcher Lehrer hat dich nachhaltig geprägt? Ich habe nachgedacht und konnte keinen einzigen Namen nennen. Absolut keine positive Erfahrung. Ganz im Gegenteil. Ich war ein schlechter Schüler. Seit der zweiten Klasse hatte ich Nachprüfungen, ich hatte mehr Fünfer in Zeugnissen als ich zählen kann. Es verging kein Jahr ohne Nachprüfung, auch die Matura habe ich wiederholt. Ich habe nichts ausgelassen. Vielleicht auch verstärkt durch meine familiäre Situation. Mir liegt fern, irgendjemanden dafür verantwortlich zu machen und ich glaube auch nicht, dass ich deswegen weniger gescheit bin, sondern dass dieses System verabsäumt – und ich möchte bewusst sagen, dass es weder gut noch schlecht ist – mehr Augenmerk darauf zu legen, welche Voraussetzungen jeder einzelne Schüler mitbringt. Was braucht er, um besser lernen zu können? Wir wissen, dass es verschiedenen Lerntypen gibt und wir können nicht alle über einen Kamm scheren. Das funktioniert nicht. Würde das Schulsystem, statt einem Einschulungsgespräch oder -test einfach überprüfen, welcher Lerntypus dieser Mensch ist und ihn dann ihm entsprechend einschulen, wäre viel mehr möglich. Vor allem eines: Das Selbstbewusstsein würde nicht darunter leiden. Ich glaube, es ist das Schlimmste, dass das Selbstbewusstsein vieler kleiner Seelen gebrochen wird, weil sie anhand von Noten bewertet werden. Viele Jahre kriegen sie das Gefühl vermittelt, dass sie ein schlechter Mensch sind. Das ist dramatisch. Aber wir wollen ja über das Positive sprechen. Die Schule der Neugier ist unsere Interpretation des freudvollen Entdeckens, Staunens und Lernens und natürlich des Wachsens. Wir wollten einen Raum schaffen, in dem junge Menschen der Region gemeinsam Staunen, Fragen und Lernen können. Es geht darum, sich lebenspraktische Dinge anzuschauen. Wir sind rausgegangen ins Marchfeld, weil die wenigstens Leute eine Ahnung haben, was hinter der Stadtmauer auf den Feldern wächst. In den mittlerweile fünf Jahren habe wir an die 30 Veranstaltungen gemacht, viele, viele Kinder und deren Eltern da gehabt und wirklich spannende und schöne Momente erlebt. Für jeden einzelnen Moment war es der Aufwand wert. Ich würde mir wünschen, dass die Schule diese Elemente aufnimmt. Wir haben die Schule der Neugier bei LEADER vorgestellt und angeboten, wir wurden abgelehnt. Wir haben es der Volksschule angeboten, wollten mit anderen Schule in Kontakt treten und sind abgeblitzt. Es ist für mich unbegreiflich, aber wir haben es akzeptiert und einfach weiter gemacht. Wir können gut alleine funktionieren, wir haben unseren Zulauf und als Familie eine Kultur entwickelt, diese Dinge selbst zu machen, wenn sie uns fehlen. Letztes Jahr wollte Johannes Schach lernen, in Wien hat es nicht funktioniert, dann bin ich zu der Schachschule gegangen und habe gefragt, ob sie das bei uns auch machen würden, wenn wir uns um die Leute und um den Raum kümmern würden. Und so hatten wir im Sommer einen Schachkurs hier im Haus mit an die 30 Kinder. Großartig! Dinge, die es hier nicht gibt, die machen wir uns. Das ist das Prinzip Neugier: Raus zu gehen, Angst zu überwinden und zu sagen „Gibt’s ned, moch ma!“ In jedem von uns steckt die Kraft, Großes zu bewegen. Ich muss es mir nur zutrauen. Da fällt mir ein gutes Zitat von Johannes Gutmann, den wir vor ein paar Jahren einmal für eine Veranstaltung bei uns zu Besuch hatten, ein: „Wir stecken die Kinder in viel zu kleine Schuhe, nur dass sie ja nicht auf die Idee kommen, große Schritte zu machen“. Das sagt so viel aus, nämlich auch wie schon vorher erwähnt, dass das Selbstbewusstsein gebrochen wird. Viele können sich aufgrund des Geldes nicht leisten, ihren Kindern einen anderen Weg zu zeigen, aber sie können eines machen: Sie können Zeit investieren, um mit ihren Kindern zu sein, ihnen abseits der Schule die Welt zu zeigen, sie Fragen stellen zu lassen, sie neugierig sein zu lassen und ihnen und ihrer Kreativität Raum zu geben. Jeder kann seine eigene Schule der Neugier im Handtaschenformat in sein Leben bringen, wenn er das wirklich will. Dafür braucht es aber vorher das Verständnis und das Bewusstsein, welche Kraft wir als Eltern, als Erwachsene haben. Selber einmal wieder Neugier in unser Leben lassen und dann noch den kleinen Menschen helfen, sie nur ja nicht zu verlieren.
Du hast vorher die Technologie angesprochen. Die Neugier leidet darunter, weil uns eben alles am Silbertablett präsentiert wird. Wie kann die Technologie, zu der sie sich in den letzten 10 bis 20 Jahren entwickelt hat, genutzt werden, um die Neugier zu erhalten oder sie wieder zu entfachen?
Es fällt mir partout keine Technik ein, die Neugier entfachen würde. Außer vielleicht begleitend unterstützt, wie eine App fürs Geocaching oder alle möglichen Suchplattformen. Das sind für mich Werkzeuge. Aber die Neugier brennt und lebt in mir. Keine Technik kann das entfachen.
Wie erkennt man, für was man brennt?
Jeder Mensch, der sich spürt, der spürt auch, wenn etwas Besonderes passiert. Es packt einen, man kriegt eine Gänsehaut. Bei jedem äußert sich das anders. Aber grundsätzlich muss man sich spüren. Menschen, die sich nicht spüren, werden das auch nicht merken. Es gibt verschiedenste Beispiele: Es gibt Menschen, die haben eine Begegnung, die lernen jemanden kennen, der sie für etwas begeistert. Es gibt andere, die stolpern über etwas, lernen etwas kennen, sehen etwas und wissen sofort, das ist meins und es lässt sie nie wieder los. Das finde ich großartig, sowas hatte ich nie. Ich bin ein Tausendsassa. Es gibt hunderttausend Dinge, die mich interessieren, die ich dann aber bald wieder einmal sein lasse. Es gibt ganz, ganz weniges, wo ich dranbleibe, wie zum Beispiel bei der Lebensraumgestaltung. Da bin ich mittlerweile seit acht Jahren dran. Für mich sehr ungewöhnlich, aber das interessiert mich wirklich. Wie funktioniert unsere Gesellschaft und welche Werkzeuge kann ich als Kommunikationsexperte kreieren, sogenannte Social Designs, damit Menschen wieder angstfrei zusammenfinden? Verkürzt gesagt: Wie kann ich Menschen auf einander neugierig machen? Das ist das, was mich wirklich antreibt. So versuche ich immer wieder, neue Werkzeuge zu entwickeln, die mich das ausprobieren lassen.
Gibt bzw. gab es jemanden in Deinem Leben, der Dich in Deiner Neugier beeinflusst hat?
Es gibt einen einzigen, und das ist Leonardo da Vinci. Ich hatte nie einen Mentor, nie einen Erwachsenen, der mir ins Leben geholfen hätte. Ich hatte von Amtswegen eine Person, die mir zur Seite gestellt wurde, aber all das, was mich heute ausmacht, habe ich selbst geschaffen und selbst erarbeitet. Später bin ich über Leonardo da Vinci gestolpert. Er ist so verrückt, so zeitversetzt, der passt überhaupt nicht in seine Zeit. So komme ich mir auch manchmal vor. Ich bin mit meinen Ideen oft meiner Zeit voraus und werde missverstanden. Aber Gott sei Dank habe ich mir wieder ein Selbstbewusstsein erarbeitet, sodass ich da ganz gut durchtauchen kann. Aber leider kann ich das nicht so beantworten, dass ich Dir Personen aufzählen könnte.
Empfindest Du das als Nachteil?
Ich finde es schade, ich hätte immer gern jemanden gehabt, aber das war halt nicht. Ich hänge dem nicht nach. Ein Nachteil ist es nicht, weil ich umso gestärkter bin, weil ich es mir selbst erarbeiten musste. Es kann mir nicht passieren, wenn diese Person nicht mehr da wäre, dass quasi auch diese Energie nicht mehr da wäre. Das ist in mir ohne fremde Unterstützung. Ich brauche keine Technik, keine Vorbilder, das einzige, was ich brauche, sind andere Menschen, mit denen ich in Resonanz gehen kann, die dieses Thema oder dieses Tun vielleicht kritisch betrachten und vielleicht die Gabe haben, mir diese Kritik verständlich zu vermitteln. Die Themen, die ich beleuchte, aus anderen Perspektiven betrachten. Das ist das einzige, was ich brauche und ich freue mich irrsinnig, wenn ich so jemanden treffe.
Du bist Vater von zwei Kindern. Bist Du für die beiden ein Vorbild was Neugier betrifft?
Definitiv. Wir sind auf jeden Fall Vorbilder unserer Kinder im Negativen wie im Positiven. Ich weiß, dass die Kultur meiner Mutter sich erst Jahre später bei mir entwickelt hat. Wenn ich heute in ihrer ehemaligen Bibliothek stöbere, treffe ich auf Bücher, die ich selbst gekauft habe. Letztens habe ich mir ein Buch gekauft und eine Woche später war ich im Container, wo viele Bücher meiner Mutter lagern, und bin genau auf dieses Buch gestoßen. Die Kultur und ein Teil des Weltbildes unserer Eltern lebt ins uns weiter. Erst Jahre später habe ich gemerkt: Viele Dinge, die sie gemacht hat, habe ich auch gemacht. Aber nicht, weil sie mir das beigebracht hätte, sondern weil ich es unbewusst miterlebt habe. Es tut gut, klassische Musik zu hören, es tut gut, sich für Kunst und Kultur zu interessieren, es tut gut, Gastgeber zu sein. All das hat auch sie gerne gemacht. Wir bemühen uns als Eltern – da hat jeder seine Schwerpunkte – unsere Kinder bestmöglich auf ihr Leben vorzubereiten. Meine Mitgift, mein Vermächtnis zu Lebzeiten ist, unseren Kindern den Raum zu geben, so viel wie möglich Fragen zu stellen und sie im Fragen zu bestärken. Wenn sie eine Frage stellen, dann antworte ich nie drauf, sondern antworte mit einer Gegenfrage. Wie könnte das sein? Warum glaubst du das? Wer könnte dir weiterhelfen, eine Antwort zu finden?
Nervt das die Kinder manchmal?
Nein, überhaupt nicht. Ab dem Kindergartenalter der Kinder habe ich begonnen, mich sehr viel mit dem Thema Fragen auseinanderzusetzen, weil ich damals draufgekommen bin, wie eng verbunden das mit der Neugier ist. Fragen sind eines der wichtigsten Werkzeuge im Kontext mit Neugier. Als ich die Kinder vom Kindergarten abgeholt habe, habe ich sie gefragt, welcher Frage sie heute nachgegangen sind oder wenn ich sie hingebracht habe, welcher Frage sie heute mit den anderen nachgehen wollen. Das klingt vielleicht ein bisschen hochgestochen, aber sie haben es aufgegriffen. Das eine oder andere Mal haben sie erzählt, welche spannende Frage sie gestellt haben oder welcher Frage sie nachgegangen sind.
Gab es Rückmeldungen der Pädagoginnen?
Nein. Aber es gab einige einschneidende Momente: Wir fahren am Radl und plötzlich: „Du Papi, warum verletzen sich Vögel nicht, wenn sie auf der Stromleitung sitzen?“ Ich habe es ihnen nicht erklärt, sondern Begeisterung wegen dieser spannenden Frage gezeigt. Daraufhin habe ich gefragt, wer uns weiterhelfen könnte, uns diese Frage zu beantworten. Aus dieser von Johannes gestellten Frage entstand die Idee für einen Workshop im Rahmen der Schule der Neugier, bei dem wir unseren Elektriker eingeladen haben. Meine Kinder bekommen von mir vermittelt, dass neugierig sein und Fragen zu stellen gut ist. Ja, ich bin Vorbild, ja ich bestärke sie im Fragen und ich bin mir 100-prozentig sicher, dass sie für ihr weiteres Leben bestmöglich gewappnet sind. Sie sind neugierig, dadurch angstbefreiter, sie gehen offen auf andere Menschen zu, sie werden von Erwachsenen als nahezu ebenbürtig wahrgenommen. Wir bekommen immer wieder die Rückmeldung, wie interessant es ist, mit Lilli und Johannes zu reden, weil sie aufmerksam zuhören und interessante Fragen stellen. Und gleichzeitig beobachte auch ich andere Kinder genau und werde dabei oftmals sehr traurig, weil ich kein Feuer brennen sehe und keine Energie spüre. Da frage ich mich, wie wird dieser Mensch durchs Leben gehen, was wird dieser Mensch aus seinem Leben machen?
Beschäftigst Du Dich mit Deinem eigenen Tod?
Ja, sehr intensiv. Einer der wenigen Ängste, die ich habe. Wobei ich während der letzten Monate begonnen habe, mich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, weil mir das Leben den einen oder anderen Kontakt mit dem Tod zugespielt hat. Das ist soweit gegangen, dass ich einen Menschen reanimieren musste, konnte, durfte, der dann leider verstorben ist. Bis zu dem Zeitpunkt war ich noch nie in direktem Kontakt mit dem Tod. Ich beschäftige mich sehr viel damit, es ist noch etwas, was mir Angst macht. Einerseits ist es die Angst vor Krankheiten, aber es überwiegt eigentlich die Angst davor, etwas zu versäumen, einer Frage nicht mehr nachgehen zu können, etwas nicht mehr entdecken zu können. Das ist etwas, was sehr groß ist in meinem Leben. Mein Tag könnte 48 Stunden oder noch mehr haben und er wäre immer noch zu kurz. Es gibt so viel da draußen zu entdecken und mir ist schleierhaft, dass Menschen immer den gleichen Weg in die Arbeit fahren, immer die gleichen Leute treffen, oft in den gleichen Ort in den Urlaub fahren, weiß der Teufel was. Das Leben bietet so viel, es ist wie ein Buffett. Das wäre, als würde ich in einem klassischen Buffett-Lokal immer à la carte bestelle und dann auch immer das gleiche. Das ist mir schleierhaft. Aber ich weiß auch eine Antwort, weil mich das Verhalten meiner Mitmenschen interessiert, damit ich sie besser verstehen kann. Es gibt Sicherheit, immer das Gleiche zu essen. Dann kann ich nicht etwas essen, was mir nicht schmeckt, wo ich dann womöglich einen scheiß Tag hätte. Ich war als Kind auch so. Ich bewundere unsere Kinder, die gerne ausprobieren. Ich sage meinen Kindern auch, dass ich da anders war, so richtig mühsam. Wenn sie etwas nicht kosten wollen, sage ich ihnen, sie sollen es bitte nicht essen, weil es ihnen sowieso nicht schmeckt und dann kosten sie es. Es gibt für alles einen Weg mit Schmäh.
Das ist jetzt ein harter Cut, aber lass uns trotzdem noch einmal auf den Tod zurückkommen. In meiner Kindheit gab es eine Phase, – wahrscheinlich, weil meine Urlioma und danach meine Oma gestorben ist, die mir beide sehr nah standen – in der ich es nicht erwarten konnte, bis ich selbst sterbe. Ich wollte unbedingt herausfinden, was danach ist. Ich dachte mir, wenn ich zum Beispiel 90 Jahre alt werde, halte ich das bis dahin nicht aus. Dieser Drang hat sich zum Glück gelegt, meine Eltern hat das auch irritiert, wenn das fünf- bis zehnjährige Kind vom Tod fasziniert ist. Diese Faszination ist aber natürlich immer noch gegeben. Bei mir überwiegt die Neugier, was danach kommen könnte, der Angst. Da bin ich schon furchtbar gespannt!
Schön, nein. Überhaupt nicht. Leben ist Leben, Tod ist Tod. Damit beschäftige ich mich, wenn ich tot bin. Dann kann ich das ausleben – unter Anführungszeichen – was ich jetzt hier im Diesseits entdecke. Alles zu seiner Zeit.
Eh, ich habe nicht vor, aus dem Gespräch zu gehen und mich zu erhängen, nur um es bald zu erfahren, was danach ist.
Ich versteh schon. Ich beschäftige mich doch, aber sehr rudimentär, mit der Frage, was nach dem Tod ist. Gerade jetzt haben wir uns damit auseinandergesetzt, weil es Johannes sehr beschäftigt hat, weil ein lieber Freund von mir und jetzt auch die Großtante gestorben ist. Kinder haben wieder einen ganz eigenen Zugang. Vor ein paar Jahren, als mein bester Freund gestorben ist, haben die Fragen der Kinder uns, Judith und mir, in der Trauer sehr geholfen. Das finde ich sehr spannend! Kinder haben einen völlig anderen Blick darauf, für den Du Verständnis aufbringen musst. Gleichzeitig darfst du erkennen, was für dich auch dabei ist, dass du dir in dieser kindlichen Trauerarbeit etwas rausnimmst. Faszination hat der Tod keine, ich würde auch nicht so weit gehen, dass ich die schönen Seiten daran erkenne. Es ist nicht der Tod per se, wovor ich Angst habe, sondern vor der leidenden Phase davor, einer möglichen schweren Erkrankung. Der Tod kommt sowieso, ob ich will oder nicht. Ich kann traurig sein, dass ich irgendwann einmal sterbe oder ich akzeptiere es. Genauso beim Regen, ich kann fröhlich sein oder grantig. Wenn es regnet, regnet es.
Vielen Dank für das Gespräch.
Mehr Informationen zu „Mr. Machbar“ – das ist einer
der vielen Namen, die sich Moritz Jahoda gibt – und seinen
Projekten finden Sie auf www.machbarschaft.at
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