FREIGEDACHT

Alles auf Schwarz

20. Mai 2020

„Nehmen Sie Platz“, sagte der über neunzigjährige Herr und blickte streng über seine schmale Brille in die Augen seines Gastes. Er setzte sich gegenüber auf die andere Seite des Tisches, seine Frau lehnte am Arbeitsblock der Küche und lauschte dem Gespräch. „Waren Sie schon einmal hier?“, fragte er den nervösen jungen Mann.

Dies war der Beginn unseres ersten Gesprächs im Frühjahr 2016, bei dem ich mein Interesse an einem Film-Portrait über seine Person bekundete. Die vorhergegangenen Versuche wies er manchmal mehr, manchmal weniger vehement ab. „Herr Kirchner hat mich regelrecht traktiert. Hätte ich gewusst, wie schön das wird, hätte ich gleich zugesagt“, hat er später einer Journalistin über das Portrait-Projekt erzählt. 

Lieber Leo, lass mich ein letztes Mal ein paar Worte an Dich richten.

Es war Dein Charakter, der mich faszinierte. Die bis in die Gesichtszüge manifestierte Konsequenz, die sich wie ein roter Faden durch Dein Leben zog. Du warst eine streitbare Person. Nicht bei allen beliebt. Ich aber durfte eine Seite kennenlernen, die von Humor und Großzügigkeit geprägt war. Vielleicht, weil ich Dir mit unbelasteter Offenheit begegnete. Vielleicht, weil Du spürtest, dass mein Interesse ehrlich ist.

Aus diesem ehrlichen Interesse und der wochenlangen gemeinsamen Arbeit für das Portrait, entwickelte sich eine ungewöhnliche Freundschaft. Immer wieder verbrachten wir Zeit miteinander, machten gemeinsame „Ausflüge“. Zuerst in Deinem alten Mercedes, später in meinem „Wagen“. Mir gefiel es, wie Du zum Auto Wagen sagtest. Das ist eine Begrifflichkeit aus einer anderen Zeit. Kein Wunder, wurdest Du doch 1923 geboren.

Trotz Deiner Geradlinigkeit und Deiner Härte im Charakter, hast Du Deinen Humor und Deine Lässigkeit immer wieder bewiesen. Eine kleine Episode möchte ich erzählen. 

Im Steak Haus angekommen zeigte uns der Kellner unseren Tisch. Leo schleuderte seine Kappe sehr lässig und offensichtlich geübt auf den Polster in die Ecke der Sitzgarnitur. Kurz blieb sie darauf liegen, dann rutschte sie auf die Sitzbank. „Fast“, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu. Am Tisch warteten wir noch ein paar Minuten und dann kam auch schon die frisch frisierte, übers ganze Gesicht strahlende Frau Haindl zur Tür herein. 

Das Restaurant ist im Western-Stil gehalten und erinnerte Leo an El Paso in Texas. Irgendwann in seinem aufregenden, unbeschreiblichen Leben war er auch dort. Ob ihn das Geschäft dort hintrieb, fragte ich. „Ja, auch. Ich habe das immer verbunden.“ In der nächsten Stunde haben wir Bier und Steaks genossen. Das war übrigens das erste Steak meines Lebens. Als Kind hat mir schon von der Vorstellung eines blutigen Stück Fleisches auf meinem Teller gegraust, jetzt war es ein Genuss. Wenn die Atmosphäre, die Gesellschaft und die Zubereitung der Mahlzeit stimmt, ist das viel wert. Einzig zwei Fliegen störten unser Beisammensein. Leo vermutete scherzhaft, dass sie die Fliegen hier extra züchteten, um die El Paso-Atmosphäre realistischer zu machen. 

Obwohl Dein Humor so fein war, gab es in Deinem Leben immer wieder Zeiten, in denen Du nichts zu lachen hattest. Wenn man sich diesen Querschnitt Deines Lebens ansieht, kann man erahnen, woher der eiserne Charakter kommt.

Im Zweiten Weltkrieg hast Du Grausames erlebt, musstest lange Zeit in Kriegsgefangenschaft verbringen und hattest mit den von Dir gegründeten Unternehmen immer wieder schwierige Phasen. Aufgegeben hast Du nie, obwohl es oftmals riskant war. „Wenn man etwas erreichen will, muss man ein Risiko eingehen.“ Mit Mitte neunzig brachst Du Dir dann auch noch den Oberschenkelhals, um Dich nach einem langen Spitalsaufenthalt wieder zurück ins Leben und in Deinen geliebten Wagen zu kämpfen. Ab diesem Zeitpunkt mit Gehstock, aber nicht minder teilhabend am Tagesgeschehen. Es scheint so, als hättest Du die Eigenschaften des von Dir entwickelten Pflastersteins zu Deinen eigenen gemacht.

Für mich bist Du ein Vorbild.
Gelernt habe ich von Dir, dass man auch im hohen Alter im Geiste voller Witz und Neugier bleibt, egal welche Zahl in der Geburtsurkunde steht. Und, dass es sich lohnt, für seine Überzeugungen einzustehen. Konsequent soll man sein. Und auch ein bisschen stur. „Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, gehe ich bis zur letzten Konsequenz“, hast Du einmal gesagt.

Fast siebzig Jahre lagen zwischen uns, und doch war die Verbindung da. Wir haben uns verstanden. Fanden dasselbe interessant. Haben über dasselbe gelacht. Aufgrund des Corona-Virus konnte ich Dich in Deinen letzten Wochen leider nicht mehr besuchen. Es schmerzt, wenn ich daran denke. Es beruhigt mich zu wissen, dass Du es jetzt überstanden hast. Lange gefackelt hast Du nie.

Du hast Dein Leben gelebt, wie Du es wolltest. Selbstbestimmt und wach im Geist. Bis zum Schluss. Mir bleibt nun nichts mehr, als mich auf diesem Wege zu verabschieden und meinen Hut zu ziehen. 

Mach’s gut, alter Freund! Und danke für alles. 


 

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