FREIGEDACHT

Ein Paar Schuhe

1. Mai 2018

Ungefähr vor zehn Jahren muss es gewesen sein, als ich in einem Wiener Sportgeschäft ein schwarz-rotes Paar Sportschuhe erworben habe. Eigentlich war ich mit dem Kauf gar nicht so zufrieden. Der Schuh war teuer, nicht wasserdicht und hatte ein neuartiges Schnürsystem. Im Laufe der Jahre lernte ich ihn aber trotz seiner Mängel zu schätzen. Es war anfangs ein bisschen wie ich mir eine schwierige Ehe vorstelle, die aus irgendwelchen Gründen nicht mehr geschieden werden kann. Der Schuh und ich, wir mussten uns erst zusammenraufen. Rückblickend war es wohl eine der besten Investitionen meines bisherigen Lebens.

Diese Schuhe haben mich nicht nur durch unzählige Rad-, Wandertage und sonstige Ausflüge getragen, sondern auch an ganz spezielle Orte dieses Planeten. Sie brachten mich an den heißesten Ort der Welt in der Mojave-Wüste, zum Grand Canyon, an die Strände Kubas, nach Cornwall und mehrmals nach London, vor das Weiße Haus, aufs Boot zum Whale Watching in Monterey Bay, mit dem Schiff von Wien nach Bratislava, in das moralisch verwerfliche Las Vegas, zur NASA ins Kennedy Space Center nach Florida, in die Everglades zwischen Alligatoren und Pythons, auf Biber- und Hirschtour mit dem Schlauchboot durch den Nationalpark Donau-Auen, ins Val Camonica Tal in der Lombardei, zu Stonehenge und vor keinem Geringeren als Clint Eastwood bin ich damit auch schon einmal unerwartet gestanden. 

In der Vorbereitung auf ein einziges Vorhaben habe ich tagelang gehadert, ob ich sie anziehen soll oder nicht. Vor drei Jahren bei der Besteigung des Großglockners musste ich mich  gegen sie entschieden. Wasserdurchlässige Schuhe, die noch dazu nicht knöchelhoch sind, haben auf Schneefeldern und am höchsten Berg Österreichs leider nichts verloren. Da ich bis jetzt noch nicht am Mars spazieren durfte, hat sich diese Frage sonst nie gestellt, und so habe ich bei jeder Aktivität im letzten Jahrzehnt, die abseits des normalen Alltags stattfand, mich am öftesten für die bequemsten aller Schuhe entschieden.  

Eigentlich hatte ich gar nicht vor, diese Schuhe so lange zu tragen. Schließlich machten sich schon vor Jahren die ersten Verschleißerscheinungen bemerkbar. Das sehr modern wirkende, aber wie befürchtet filigrane Schnürsystem riss relativ bald und ich musste diese eher weniger grandiose Schusterleistung (oder wer auch immer dieses System erfunden hat) durch herkömmliche Schuhbänder ersetzen. Dies war mehr Segen als Fluch, denn der Schuh ließ sich nun fester schnüren. Und obwohl manche Menschen bei diesem ersten Schaden den Schuh wohl schon entsorgt hätten, entschied ich mich für das Provisorium, das letztendlich länger hielt, als das ursprünglich Vorgesehene. 

Schon vor fünf Jahren fragten mich die Kinder in der Arbeit, als ich mit den Schuhen zum Ausflug aufkreuzte: „Wieso kaufst Du Dir nicht neue Schuhe, wenn die Schuhbänder schon kaputt sind?“ Diese Frage von Volksschulkindern zu hören verwunderte mich so, dass ich mich in meinem Beharren, mir noch keine neuen Schuhe zu kaufen, bestärkt fühlte. Für den alten und eingegangen Schuh, wider den Kapitalismus. 

Gut eingegangen ist der Schuh allerdings, hat er mich doch in unzähligen Begebenheiten durch unterschiedliche Gegebenheiten getragen. Ob am Berg oder am Meer, in der Wüste oder im Wald, am Land oder in der Stadt, in den hellsten Momenten mit Freunden oder in den dunkelsten Stunden allein im Wald. Wer einen steinigen Weg gehen möchte, der braucht gutes Schuhwerk.  Diese Schuhe haben mich stets geduldig, verlässlich und gänzlich ohne Druckstellen durch die Unebenen meines Lebens getragen. Ein Schuh kann so viel mehr sein, als nur ein modische Utensil, bloßer Fußwärmer oder -schutz. Dieser Schuh diente als Lebenserleichterer. Und er  erfüllte seine Aufgabe in besonders hervorragender Weise. Federleicht, atmungsaktiv und eine Sohle, die einem genau auf den Fuß angepassten Stoßdämpfer gleicht.

Jetzt ist der Tag gekommen, an dem ich mich um neue Schuhe umschauen muss. Der alte ist zu mitgenommen, die übrig gebliebenen Schlaufen für die Bändern halten nicht mehr lange, für größere Unternehmungen wäre es zu riskant, mich in diesen Schuhen zu bewegen. 

Es war eine lange Reise, die ich die letzten Jahre mit ihnen an meinen Füßen machte. Ob jetzt ein neues Kapitel mit den ebenso neuen Schuhen beginnt? Ob ich mich jemals wieder so wohl fühlen kann in einem Schuh? Ob ich über die Schuhbindung hinaus eine ebensolche zum neuen Exemplar aufbauen werde? Ich weiß es nicht. Diese Gedanken sind wahrscheinlich auch ein bisschen verrückt, aber Schuhe sind nun einmal – und das kann nicht bestritten werden – unsere größten Diener im Alltag. Physisch gesehen trägt der Schuh die Hauptlast. Und erst wer auf einer soliden Basis steht, dem wird Entfaltung möglich sein.

Ein altes Sprichwort sagt: „Alte Schuhe verwirft man leicht, alte Sitten schwer“. Das mit den Sitten mag stimmen, bei diesen Schuhen fällt es mir allerdings nicht leicht. Wegwerfen kann ich sie nicht, ich hänge sie stattdessen wortwörtlich an den Nagel. Sie werden in voller Pracht, abgeschunden, durchlöchert und mit dem Dreck der allerletzten Wanderung versehen meine Wand zieren. Immer wenn ich sie ansehe, werde ich mich an die Erlebnisse erinnern, die ich in den letzten Jahren hatte. In Wirklichkeit sind es nämlich nicht die Schuhe, die besonders sind, sondern die Erinnerungen, die ich mit ihnen verbinde. 


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