Eigentlich war der Plan, mit dem Auto durch Italien zu fahren und dies so günstig wie möglich zu halten. An einem bestimmten Tag wurde dem allerdings effektiv und erfolgreich entgegengewirkt. Unsere Route brachte uns nach Castiglione della Pescaia. Ein traumhafter Ort an einem Meer, das die unterschiedlichen Blautöne auf der Klaviatur des Farbspektrums zu bespielen vermag. Neben den blauen Weiten und den kleinen, alten Städtchen, die einen ins Staunen und zurück in die Zeit der Medici versetzen, sind es auch die Menschen, die an diesem Ort zu den wahrscheinlich attraktivsten sämtlicher Orte gehören. In der Evolution der Menschheit hat sich das Schöne offensichtlich genau hier konzentriert. Ob meine Wahrnehmung auf der von mir in diesen Tagen genossenen Freiheit basiert, weiß ich nicht. Vielleicht ist es auch einfach so und das Schöne ist hier tatsächlich an seiner Objektivität nicht zu übertreffen.
Nach einem Tag am Strand schlenderten wir zu später Stunde durch die Stadt, auf der Suche nach einer leistbaren Herberge. Gleich zu Beginn strandeten wir im Hotel Piccolo. Dass wir hier letztendlich auch landen werden, konnte zu diesem Zeitpunkt noch keiner von uns wissen. Ein ausgesprochen netter, älterer Herr an der Rezeption meinte, er habe noch genau ein Zimmer frei. 160 Euro pro Nacht überschritten unser geplantes Tagesbudget aber doch deutlich. So bedankten wir uns, verließen das ansehnliche Hotel, in dem wir uns sofort wohlfühlten, und machten uns weiter auf die Suche. Nach einer weiteren Stunde des Suchens und zahlreichen „No room, scusi!“ waren wir bereits wieder am Weg zum Auto um uns auf den noch weiteren Weg ins Landesinnere zu machen. Sämtliche Onlineplattformen prophezeiten uns in halbwegs erreichbarer Nähe horrende Preise für unser potentielles Quartier. Obwohl mich diese Situation keinen Funken in Stress versetzte, durchfuhr mich plötzlich das starke Gefühl, wir sollten zurück zum netten, ältere Herren und das teure Zimmer nehmen. Wir waren uns in der Sekunde, in der ich dieses Gefühl aussprach, einig und machten uns überzeugten Schrittes auf zum Hotel. Der nette, ältere Herr erwartete uns schon mit einem Grinsen im Gesicht. Das gute Gefühl war sofort wieder zurück. Als ich ihm sagte, dass wir das Zimmer bei ihm nehmen, erwähnte er noch einmal mit Nachdruck, dass es sich wirklich um das letzte Zimmer handelt. Dass es tatsächlich das letzte Zimmer in der Stadt ist, konnte er natürlich nicht wissen. Auf meinen Versuch, den Preis um 20 Euro zu drücken – „You said 140 euro, right?“ – erklärte er mir mit leicht hochgezogenen Mundwinkeln, dass er uns ohnehin bereits den um 30 Euro billigeren Preis der Nebensaison gibt und daher Erklärungsbedarf bei seiner Frau hatte. Unsere Jugend und unsere wahrscheinlich einigermaßen sympathische Ausstrahlung nahm er als Rechtfertigung. Er gab uns den Schlüssel mit der Zimmernummer 33 in die Hand und beharrte darauf, uns das Zimmer selbst zuvor noch zu zeigen. „Now I will show you your room, but it’s not in this building.“ Kurz rechneten wir mit einer der Bruchbuden nebenan. „But it’s better“, fügte der nette, ältere Herr noch an. Wir waren gespannt und auch ein bisschen erleichtert. Recht flott folgten wir dem kleinen, stämmig gebauten Herren mit weißem Bart und ebenso weißen Haaren über die Straße in das Gebäude gegenüber. Durch den Garten und die Eingangstüre, über eine kleines Stiegenhaus in den ersten Stock bat er uns ins Zimmer. Groß, sauber, luxuriös. Wir waren begeistert und konnten beziehungsweise wollten diese Begeisterung nicht verbergen. Mit seinem Blick vermittelte er uns: Wartet, es wird noch besser. Er ging zur Balkontür, zog den weißen Vorhang zur Seite, sperrte die große, braune Holzschiebetüre auf und danach das Gitter dahinter. Eine sanfte Brise und leises Rauschen strömten herein und es offenbarte sich ein Blick aufs offene Meer. Auf dem Gesicht des netten, älteren Herren breitete sich ein Lächeln aus. Seine Augen blitzten wie das Meer, das die tief stehende Abendsonne reflektiert. „It’s the best room in our house!“ Spontan legte ich meine Hand auf die Schulter des älteren, netten Herren und vermittelte ihm mit einem Nicken und in größter Gerührtheit meinen Dank.
Nach einem ausgiebigen Abendmahl samt einer Flasche toskanischem Weißwein, erholten wir uns in unserer Suite. Zwei, drei Mal wachte ich auf, hörte das Rauschen des Meeres und schlief zufrieden wieder ein. Am nächsten Morgen hatten wir zwar großen Hunger, wussten aber nicht, ob das Frühstück inbegriffen ist. Somit packten wir unsere Koffer, brachten sie ins Auto und trafen danach an der Rezeption den netten, älteren Herren an. Seine erste Frage war, ob wir denn schon gefrühstückt haben. Da wir es verneinten, schickte er uns in die Frühstücksräumlichkeiten und meinte, wir sollen unsere Tischnummer bekanntgeben. Wieder war dieses schelmische Grinsen in seinem Gesicht. Wie als möchte er uns mitteilen, dass er einen ganz besonderen Tisch für uns reserviert hat. Und tatsächlich war unser Tisch, nicht wie viele andere Tische im Inneren, sondern im Freien im angenehmen Schatten einer Laube. Nachdem wir uns am reichlich bestückten und für das durchschnittliche Italien unüblichen Frühstücksbuffet bedient hatten, gingen wir zur Rezeption um auszuchecken und uns noch einmal beim netten, älteren Herren zu bedanken. Aber er war nicht mehr da. Es war seine Frau, die unsere Schlüssel und meine Kreditkarte entgegennahm. Da ich der italienischen Sprache nicht mächtig bin, seine Frau aber kein Englisch spricht, habe ich auf meinem Übersetzer am Handy „Ich würde gerne noch einmal mit Ihrem Ehemann sprechen“ eingegeben und ihr den Bildschirm entgegengestreckt. Sie setzte sich ihre Brille auf, kniff die Augen zusammen und erklärte mir auf Italienisch, dass ihr Mann gerade nicht da sei. Dabei gestikulierte sie, als wolle sie mir sagen, dass die Jungvögel im Nest ihres Vorgartens gerade in alle Himmelsrichtungen ausgeflogen sind. Daraufhin tippte ich erneut in mein Handy die Bitte, dass sie herzliche Grüße ausrichten möge. Wir lächelten uns beide an und bedankten uns. Viel weniger für den kommerziellen Austausch, als für die Begegnung, die uns beide Freude machte. In diesem Moment erfüllte mich wieder ein Gefühl tiefer Dankbarkeit. Verbunden mit diesem Ort, diesem Zimmer, diese Ausblick und mit dem netten, älteren Herren. Die Geistlichen sämtlicher Länder würden es wohl Gott nennen, was ich in diesem Moment kennenlernen und erfahren durfte. Der nette, ältere Herr hat uns am Vortag am Weg zum Zimmer erzählt, dass er Teilchenphysiker ist und hier in seinem Urlaub seiner Frau im Hotel aushilft. An diesem Ort habe ich zwei Sachen gelernt: Manchmal zeigt sich das Leben von seiner besonders guten Seite und Gott ist Teilchenphysiker.