Die österreichische Journalistin Anneliese Rohrer ist seit vielen Jahren Beobachterin und Kommentatorin des politischen Geschehens. Sie sagt dabei selbst, ihr „Haus-, Hof- und Leibthema“ ist der Gehorsam, dem sie 2011 unter dem Titel „Ende des Gehorsams“ ein Buch widmete. Knapp ein Jahrzehnt später ist dieses Thema aktueller denn je.
An einem bewölkten Novembertag im „sanften“ Lockdown warte ich auf der Ottakringer Straße auf die Ankunft der 76-jährigen Journalistin. Ein weißes Auto parkt sich ein, die darin am Steuer sitzende Anneliese Rohrer gibt sich durch die Lichthupe zu erkennen. Nach einer kurzen Begrüßung nehmen wir mit großem Abstand voneinander im Café Ritter Ottakring Platz. An einem Tisch sitzt Anneliese Rohrer, am anderen sitze ich, am Tisch zwischen uns steht eine kleine Flasche Desinfektionsmittel. Sonst ist das Kaffeehaus leer, einzig der Ober Herr Andreas, der uns heute extra aufgesperrt und zum Glück auch die Heizung aufgedreht hat, sitzt im Nebenraum. Die Kameras und Mikrofone sind auf uns gerichtet und zeichnen das Gesagte auf. Es ist ein ausführliches Gespräch über den Gehorsam in unserer Zivilgesellschaft und im Journalismus während der Corona-Krise, über Rohrers „Demokratie-Fimmel“ und welchen Hintergrund ihr ganz persönlicher Ungehorsam hat.
Andreas Kirchner: Erlauben Sie mir, mit einer persönlichen Frage zu beginnen: Waren Sie ein angepasstes Kind?
Dr. Anneliese Rohrer: (überlegt) Nein, nicht wirklich. Ich war kein schwieriges Kind, ich habe alles erledigt, was zu erledigen war. Nach der Matura habe ich aber sofort Reißaus aus Kärnten genommen und bin dann auch nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Das war meine Rebellion.
In einem ihrer Texte schreiben Sie, dass sich Ihre Mutter für Sie einen anderen Lebensweg vorgestellt hat. Wie hätte dieser ausgesehen?
Meiner Mutter nach hätte ich in Klagenfurt bleiben, einen Beamten heiraten und Enkelkinder produzieren sollen. Nachdem das durch meinen Amerika-Aufenthalt und mein Studium nicht mehr aktuell war, hätte ich dann in der damals gerade gegründeten Klagenfurter Universität unterrichten sollen, und nicht in Neuseeland. Die Klagenfurter Universität im Jahre 1971 und 1972 bestand aus ein paar Containern und nicht mehr, das war sowieso nicht realistisch. Dann ging ich nach Neuseeland für drei Jahre und dann zurück nach Wien. Damit haben sich die Wünsche meiner Mutter erledigt.
Lassen Sie uns trotzdem noch einmal zu Ihrer Mutter zurückkommen. Sie sind im September 1944 geboren, ziemlich genau ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ihr Vater ist im Krieg gefallen, Ihre Mutter war danach alleinerziehend. Hat Sie Ihre Mutter im Bezug auf Ihren Ungehorsam während Ihrer Kindheit geprägt?
Nein, überhaupt nicht, wenn Sie geprägt im Sinne von Vorbild meinen. Meine Mutter war eine sehr angepasste Kriegswitwe.
Hat sie Sie insofern geprägt, dass Sie nach Ihrer Kindheit meinten, Sie leben jetzt Unangepasstheit aus?
Nein, nein! Ich bin zwar sehr für Psychologie mit Einbeziehung von frühkindlichen Erlebnissen, aber in dem Fall muss ich meine Mutter wirklich außen vor lassen. Ich bin nicht wegen meiner Mutter weggegangen, sondern wegen der Enge Kärntens, wegen dieser Engstirnigkeit. In späteren Jahren habe ich mir dort sehr viele Feinde gemacht. Ich habe diese Engstirnigkeit nicht mehr ausgehalten, die sich damals in meiner Jugend auch durch die Feindschaft mit den Slowenen ausgedrückt hat. Da gab es Leute, mit denen durfte man nicht reden, weil irgendwer geglaubt hat, sie waren Partisanen. Das war alles so unglaublich bedrückend und engstirnig. Im späteren, höheren Alter – so wie jetzt – habe ich mehr Verständnis dafür. Es ist auch die Geographie von Kärnten dafür verantwortlich. Die Leute haben die Karawanken vorm Kopf. Wenn ich in unserem Haus in Klagenfurt das Fenster aufmachen will, habe ich die Karawanken vorm Kopf. Nach Norden ist es die Pack, fährt man drüber, ist man irgendwo in der Weite. Das einzige Tor zur Welt, das die Kärntner haben, ist Thörl-Maglern. Dann gibt’s noch die Tauern. Sie sitzen dort in diesem Kessel und in ihren eigenen Aggressionen und geschichtlichen Belastungen. Das war eigentlich das Ausschlaggebende.
In Ihrem Buch „Ende des Gehorsams“ forderten Sie 2011 Ihre Leserinnen und Leser und insbesondere die Zivilgesellschaft auf, weniger zu jammern und dafür demokratische Rechte in Anspruch zu nehmen. Damals orteten Sie einen vorauseilenden Gehorsam in unserer Gesellschaft. Was hat sich seit der Veröffentlichung Ihres Buches verändert?
Es ist eigentlich nur klarer geworden. Wenn sie vorher gesagt haben, Haus-, Hof- und Leibthema ist der Gehorsam, dann ist das nicht ganz zutreffend. Es ist bereits eine gewisse Obsession. Irgendjemand hat zur mir gesagt, ich habe einen Demokratie-Fimmel. Das dürfte richtig sein. Mein Thema ist wirklich die Demokratie. Ich hätte mir 2011 nicht vorstellen können, dass wir uns so um den Bestand der Demokratie sorgen müssen, wie wir es jetzt tun. Dieses Buch handelt eigentlich davon, dass die Österreicherinnen und Österreicher – und das hat historische Gründe – den vorauseilenden Gehorsam zur ihrem Lebensmotiv gemacht haben. Man hat sich daran gewöhnt, sich nicht nur anzupassen, sondern das zu tun, was man glaubt, was von einem erwartet wird.
Es genügt nämlich nicht, in der Demokratie nur die Nase zu rümpfen.
Teilhabe sieht anders aus. Wir sind eine Zuschauer-Demokratie. Im Laufe der Zeit sind dann noch die Wut-Bürger dazugekommen. In meiner Kolumne in der Presse habe ich immer wieder E-Mails und Reaktionen von Lesern bekommen, die sich über die Politik in Österreich massiv empörten. Dabei haben sowohl die Bundesverfassung, wie auch die Landesverfassungen bei uns ungeahnte – im wahrsten Sinne des Wortes, weil ungebrauchte – Möglichkeiten für die demokratische Teilhabe der Bürger. Die werden nur nicht ausgeschöpft. Eine Einschränkung will ich aber machen: Am Land tut sich da viel mehr. Auf lokaler Ebene sind die Leute gar nicht so inaktiv, im Gegenteil. Dennoch gilt dort wie in den Städten: Man muss auf die jungen Leute bauen.
Haben Sie nicht den Eindruck, dass sich während der letzten Jahre die jungen Menschen aufgrund der Vielzahl an Krisen, die gerade über uns hereinbricht oder uns jetzt erst bewusst wird, mehr politisieren? Es ziehen zum Beispiel tausende junge Menschen durch Wien und demonstrieren für eine andere Klimapolitik. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?
Ja, aber wissen Sie, von den zehntausend Jugendlichen – das ist mein Zugang – sollten einmal ein paar tausend in die Jugendorganisationen der Parteien eintreten. Es genügt nämlich nicht, in der Demokratie nur die Nase zu rümpfen. Wenn ich etwas verändern will, mache ich entweder eine Revolution – aber ich glaube, da sind die nicht so weit – oder ich versuche von innen heraus etwas zu tun. Da stoßen sie aber wahrscheinlich wieder auf ihre Eltern, die mit dem Gedanken sozialisiert sind, dass Politik sowieso scheußlich ist und dass man lieber studieren und Geld verdienen und nicht den Kopf hinausstrecken soll, weil es einem irgendwann schadet. Ich finde auch toll, dass sie jeden Freitag auf die Straße gehen, aber Straße allein genügt nicht. Sie müssen etwas tun, sie müssen in die Jugendorganisationen hinein. Sie müssen dort ihre Stimme erheben. Sie müssen ja keine politische Karriere machen, aber sie müssen teilhaben. Und sie müssen ihre Eltern dazu bringen, dass sie die Protestaktionen via E-Mail verteilen. Ich weiß als Journalistin, dass Politiker nur Zahlen verstehen. Man muss schauen, dass man im Bekanntenkreis ein Schneeballsystem aufzieht. Wenn ein Abgeordneter, ein Parteichef oder eine Parteizentrale hunderte Briefe zu einem Thema kriegen, werden sie zu denken beginnen. Ein Brief alleine wird überhaupt nicht beantwortet. Es wurde besser seit 2011, aber eben zu einem Zeitpunkt, an dem auch die Gefahren für die Demokratie größer wurden.
Die Corona-Pandemie ist auf der einen Seite eine Gesundheitskrise, auf der anderen Seite eine demokratiepolitische Prüfung für unser politisches System und für unsere Zivilgesellschaft. Im Sommer habe ich mit dem Verhaltensforscher Prof. Dr. Kurt Kotrschal ein Interview zu eben unserem Verhalten während der Corona-Krise gemacht. Ich fragte ihn, ob die Gesellschaft einen möglichen zweiten Lockdown mittragen würde und wie er zu den Menschen steht, die auf der Straße gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung demonstrieren.
Prof. Dr. Kotrschals Antwort:
Wie viel Ungehorsam ist während eines globalen Seuchenfalls gerechtfertigt?
Eigentlich gar keiner, wenn er sich mit dem Hausverstand schlägt. In meinen Augen ist dieses Anti-Corona-Theater over the top, weil es nichts hilft. Das Virus ist da. Es ist leichter gegen einen Virus oder eine Verschwörung auf die Straße zu gehen und zu schreien um sich dann anzustecken, als wirklich etwas gegen die echten Gefahren der Einschränkungen der Freiheiten zutun. Ich glaube, dass die Leute so einen Punkt brauchen, an dem sie sich festzurren. Ich glaube aber auch, dass der Virus der falsche Punkt ist.
Das Virus wird sich von der Schreierei nicht beeindrucken lassen.
Wie sind wir in diese Situation jetzt im Herbst mit unglaublichen Zahlen gekommen? Indem die Leute einfach im Sommer und auch im Herbst ihre Eigenverantwortung nicht wahrgenommen haben. Diese Linie ist wirklich gescheitert, da kann man der Politik nicht einmal einen Vorwurf machen. Wo ist denn da die Logik, dass ich mich einer Ansteckung aussetze und sage – vor allem die Jungen – ich lasse mir die Freiheit und meine Grundrechte nicht nehmen und ruiniere damit die Wirtschaft. Ich verstehe nicht, warum die jungen Leute nicht kapieren, dass es ihre eigene Zukunft ist. Wenn sie sich jetzt ein bisschen zurücknehmen, dass sie dann viel eher wieder in normale Verhältnisse kommen. Ich habe letzten Samstag eine Demonstration bei der Oper und sonst immer wieder beim Karlsplatz gesehen. Leute ohne Maske und ohne Abstand. Das Virus wird sich von der Schreierei nicht beeindrucken lassen.
Haben Sie trotzdem Verständnis für diese Menschen?
Für manche, ja. Ich bin sehr dafür, dass man wachsam ist. Dass man nicht einfach hergeht und sagt, okay, kommt halt zu mir in die Wohnung und schaut, ob ich mich wohl verhalte. Aber diese Grenze muss ich doch selber erkennen. Ich muss doch so viel Sensibilität haben, dass ich als moderner Mensch – ob jung oder alt – weiß, wann die Regierung eine Grenze überschreitet und wogegen ich auftrete. Aber doch bitte nicht gegen die Maske und den Abstand. Bin ich meiner Demokratie erschüttert, wenn ich mir jedes Mal, wenn ich nachhause komme, die Hände wasche? Das ist doch irre. Aber es gibt solche Menschen. Ich habe auch Verständnis dafür, dass solche Menschen aus lauter Angst zu solchen Theorien kommen. Sie sind aber dennoch nicht valid.
Wie kann man diese Menschen wieder zurück in unsere Gesellschaft holen? Oder muss man es einfach akzeptieren, dass es diesen gewissen Prozentsatz, wie von Prof. Kotrschal angesprochen, gibt?
Man darf sie nicht als Spinner und als Irre abstempeln. Obwohl da sicher manche Spinner drunter sind. Man muss ihnen zuhören und ihnen die Fakten auf den Tisch legen, aber nicht in der Hoffnung, dass sie diese akzeptieren. Aber dennoch muss man ihnen zuhören und mit ihnen reden. Außer sie sind wirklich am ersten Blick erkennbar…
Blöd?
Aus der Balance, würde ich sagen.
Klingt diplomatischer.
Aber für diese Demonstrationen hatte ich schon vor Wochen kein Verständnis. Es ist ja lustig! Am Karlsplatz waren ja nicht die ganz jungen, es sind eher die mittelalterlichen, die solche Thesen schreien, wie „Die Freiheit lassen wir uns nicht nehmen!“. Aber die ultimative Unfreiheit ist der Tod. Die ultimative Unfreiheit für einen jungen Menschen ist das Beatmungsgerät. Ich verstehe nicht, warum man diese Logik nicht herstellen kann. Außer natürlich, man glaubt daran, dass Bill Gates die Weltbevölkerung um Milliarden reduzieren will und deshalb den Virus in die Welt gesetzt hat. Aber dann wird man nicht mehr viel machen können. Die daran oder an andere ähnliche Verschwörungstheorien glauben, werden nicht zum Hausverstand zu bewegen sein.
Sie sagen, die Heftigkeit der zweiten Welle ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Menschen zu wenig Eigenverantwortung lebten im Sommer. Gleichzeitig betonen Sie in Ihren Publikationen immer wieder, dass es den Politikern gar nicht so unrecht ist, wenn die Menschen nicht eigenverantwortlich sind.
Das Duckmäusertum hat in Österreich Tradition. Diese Postenschacher, über die sich die Leute aufregen, kommen auch daher, weil die Parteien ihre Sympathisanten und Parteigänger versorgen wollten. Aber zum Versorgen gehören immer zwei. Einer, der versorgt und einer, der sich versorgen lässt. Da hätten wir seit Jahrzehnten mehr Rückgrat beweisen können. Jeder, der bei einem Jobangebot im Gegenzug zu einem Parteibeitritt nein gesagt hätte, hätte mehr für die Demokratie getan, als jeder, der auf die Straße geht. Haben sie aber nicht, weil das der eigene Vorteil ist.
Jetzt sind wir wieder in der von ihnen anfänglich abgelehnten Tiefenpsychologie.
Ja. Nur ist das bei uns historisch. Man muss doch durchschauen, warum zum Beispiel die Deutschen einen Bruchteil der Infektionen Österreichs haben. Und sagen Sie mir nicht, weil sie weniger testen. Die Deutschen müssten 80.000 pro Tag haben, sie haben aber 12.000 bis 16.000. Woran liegt das? Vielleicht liegt es an der unsichtbaren Disziplin der Deutschen. Peymann hat unlängst gesagt: „Die Deutschen sind obrigkeitshörig. Die Österreicher tun nur so.“ Ich weiß nicht, ob die Österreicher obrigkeitshörig sind. Sie nehmen nur, was sie kriegen und verachten den, der es ihnen gegeben hat und sich selbst, weil sie es genommen haben.
Der Umgang der deutschen Regierung mit ihrer Bevölkerung war ein anderer als bei uns. Sebastian Kurz sagte, es wird jeder jemanden kennen, der an Corona verstorben ist, während Angela Merkel von Anfang auf Eigenverantwortung setzte.
Ich glaube, in der allerersten Phase, als der Lockdown im März verkündet wurde, war das richtig. Wir brauchen nicht drumherum reden, Politik funktioniert durch Angst. Als es aber dann nach ein paar Wochen mithilfe des ORF und von Ärzten in die totale Propaganda umgeschlagen ist, und man nur mehr von den Leichenwägen aus Italien gehört hat, haben sie das irgendwie kommunikationstechnisch versäumt. Wahrscheinlich weil die Regierung so beeindruckt war, wie gut es in der ersten Phase funktioniert hat. Ab diesem Zeitpunkt war das Verhalten nicht mehr auf Augenhöhe. Ich habe mir Merkels Pressekonferenzen angeschaut, das war etwas ganz anderes. Merkel konnte man zuhören, ihr konnte man glauben. Sie hat auch nie behauptet, dass sie alles hundertprozentig richtig gemacht hat.
Man muss nicht milde sein, aber es ist erklärlich. Bei unserer Regierung handelt es sich um eine junge, weitgehend unerfahrene Regierungstruppe, die zum Teil aus den Grünen besteht, die überhaupt völlig überrascht sind und nicht wussten, wie ihnen geschieht. Das andere, wo man eine Erklärung finden kann, geht weiter zurück. Die Verwaltung in Österreich wurde ruiniert. Sie wurde personell durch parteipolitische Geschichten und strukturell durch ständige Verschiebung der Kompetenzen in den Ministerien aus parteipolitischer Opportunität zerstört. Es gibt Ministerien, die sind für Sachen verantwortlich, wo du dich fragst wozu. Das schlagt sich natürlich auch auf das Personal nieder. Daher sind die Fehler entstanden. Das Gesundheitsministerium war nach der FPÖ-Phase erodiert. Der Gesundheitsminister Anschober hatte keine wirklich gut funktionierende Rechtsabteilung. Dann muss er sich hinstellen und sagen, dass schlecht gearbeitet wurde. In dem Moment, wo jemand zugeben muss, dass schlecht gearbeitet wurde, in dem Moment, wo der Verfassungsgerichtshof Beschlüsse aufhebt und der Bundeskanzler sagt, dass es sich nur um juristische Spitzfindigkeiten handelt, leidet die Glaubwürdigkeit und der Respekt.
Der ORF war wirklich nahe an totaler Propaganda.
Jetzt sind wir in der Phase, wo sie den Sommer völlig verschlafen haben. Ich weiß nicht, sind alle auf Urlaub gegangen? Jetzt passiert ein Hoppala nach dem anderen, das aber fatal sein kann. Es ist niemand im März oder in der krassen Zeit im April hergegangen und hat ein System aufgesetzt – Föderalismus hin oder her – wo man auf Knopfdruck weiß, wie unsere Bettkapazitäten ausschauen. Es ist nicht passiert. Die Verwaltung ist lange zuvor aus verschiedenen Gründen einfach schlechter geworden und die Politik hat vieles irgendwie verschlafen.
Sie haben den ORF angesprochen. Wie ist es Ihnen als Journalistin im März zu Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus gegangen? Um beim Gehorsam zu bleiben: Waren die Medien zu regierungsgehorsam?
Ja, würde ich sagen, finde ich aber auch okay für die erste Zeit.
Ich kann mich noch an eine Aussage Hans Bürgers in einer Zeit im Bild Sendung Ende März oder Anfang April erinnern, da sagte er „Jetzt ist nicht die Zeit, dem Kanzler zu widersprechen.“
Den ORF habe ich von Anfang an schwer kritisiert. Der hat sich für mich in den ersten Monaten und auch jetzt wieder zum reinen Propaganda-Sender entwickelt. Es ist alles so parteipolitisch persönlich versifft. Man muss bedenken, dass der Generaldirektor wiedergewählt werden will. Der ORF war wirklich nahe an totaler Propaganda.
Das ist ein hartes Urteil.
Ja, es ist aber so. Das ist meine tiefe Überzeugung. Nicht nur auf die Sachen bezogen, die einem auf den ersten Blick ins Auge springen, sondern auch bei Dingen, wo man sich fragt, ob das jetzt die Aufgabe des ORF ist. Kurz verkündet, es muss in Österreich Urlaub gemacht werden, man solle ja nirgends hinfahren. Und der ORF – und auch manche Zeitungen – zeigt plötzlich nur mehr Sendungen von österreichischen Orten und österreichischem Urlaub. Das fand ich wirklich für einen unabhängigen Sender gruselig, wenn das so zusammenspielt. Manche Zeitungen haben da auch mitgetan. Aber ich kann doch jeden selbst entscheiden lassen. Diese Geschichte mit „Kauft Österreichische Regionalprodukte!“ Kauft nicht beim Türken? Kauft nicht beim Juden? Das sind alles Sachen, die dir ein ungutes Gefühl geben müssen und eigentlich die Leute zur Teilhabe animieren müssen, aber nicht nur zu irgendwelchen Krakeelen am Karlsplatz oder vor der Oper. Natürlich, es ist eine schwierige Zeit. Ausgerechnet jetzt sollen sich die Leute demokratisch engagieren. Aber ausgerechnet jetzt wäre es wichtig.
Kriegen wir es noch hin mit der Demokratie?
Ich glaube ja. Für Europa bin ich nicht so optimistisch. Ich war zum ersten Mal mit 18 Jahren in den USA, seitdem sicher noch über 100 mal. Nicht nur zu Besuch, sondern habe auch dort gelebt. Ich habe immer geglaubt, dass die Amerikaner im Unterschied zu den Europäern die Fähigkeit haben, sich im letzten Moment vom Abgrund zurückzureißen. Das haben sie in ihrer Geschichte oft genug bewiesen. Nur zwei Beispiele: Die unter der McCarthy-Ära stattgefundene Kommunisten-Hetze war eine ganz gefährliche Situation und Nixon war eigentlich demokratiepolitisch auch eine gefährliche Situation. Über Jahre hinweg habe ich mit meiner Tochter, die seit zwanzig Jahren bis zur Pandemie in New York lebte, einen Streit ausgefochten. Ihre Meinung war es immer, dass sich die USA verändert haben, die Leute sehr ungebildet sind und alles sehr gefährlich ist. Ich meinte zur ihr: „Du wirst sehen.“ Wenn sie Trump gewählt hätten, würde ich blöd dastehen. Aber haben sie nicht! Es ist wieder so eine Situation, wo sie im letzten Moment – gespalten oder nicht und durch ihr eigenartiges Wahlsystem oder nicht – den Absturz in das Totalitäre, das Trump in seiner zweiten Amtszeit mit Sicherheit ein Anliegen gewesen wäre, verhindert haben. Ich behaupte, dass das der Unterschied zu den Europäern ist. Bei den Europäern bin ich nicht so sicher. Schauen Sie sich Ungarn oder Polen an. Da greifst Du Dir auf den Kopf, dass sowas heute noch möglich ist. Gegenüber dieser Hilflosigkeit der EU. Das ist ja eine Appeasement-Geschichte, die die betreiben. Unfassbar! Jetzt droht Orban wieder damit, das Budget zu blockieren, wenn man ihm in seinen autoritären Tendenzen als Rechtsstaat in die Quere kommt. Auf solche Situationen muss man doch reagieren und schauen, dass man die Spielregeln ändern kann. Das ist natürlich illusorisch wegen der Gesundheitskrise, aber ich muss es im Auge behalten. Wir sehen aus historischen Gründen, dass wir viel eher bereit sind, ins Totalitäre zu kippen als die US-Amerikaner. Leider.
Erlauben Sie mir abschließend noch zwei thematisch andere Fragen: Warum sind Sie nicht auf Twitter?
Ich kann Ihnen das genau sagen. Ich war auf Twitter. Es hat mit den anderen nichts zutun, ich hab nur bei mir gemerkt, dass ich keinen Filter habe. Die Möglichkeit, sofort und in der Sekunde zu verschriftlichen, was du dir denkst, ist verdammt gefährlich. Als ich bemerkte, dass ich in diese Unmittelbarkeit hineinkippe, habe ich mich wieder abgemeldet. Abgesehen davon, dass mir dieser Selbstdarstellungsdrang eines Wolf oder eines Klenk oder irgendeines anderen männlichen Kollegen einfach fehlt. Das brauche ich nicht.
Ich wollte gerade sagen, diese Selbsterkenntnis, die sie auf Twitter gemacht haben, macht dort nicht jeder. Gibt es etwas in ihrem Leben, dass Sie abgesehen von der Demokratie und ihrer Obsession zu ihr, noch begeistert?
Mich begeistern Reisen und alles, was meine Neugier stillt. Ich lerne jetzt Österreich besser kennen als in 70 Jahren vorher. Mich begeistert alles, was mich irgendwie zur Analyse bringt. Deshalb leide ich jetzt. Ich leide eigentlich sehr unter der sozialen Armut, dass ich mich nicht austauschen kann. Das Telefon ist nicht dasselbe. Natürlich kann man mit Leuten telefonieren und jeder ist eigentlich so müde und jeder erzählt dir dasselbe und du erzählst jedem dasselbe. Man hat nicht den Impuls, groß herumzuanalysieren oder herumzuphilsophieren, was ich eigentlich unglaublich spannend finde. Das Reisen ist das, was mich noch am meisten begeistern würde. Diese Zeit wird jetzt auch noch genommen.
Um abschließend noch auf etwas zurückzukommen: Ich fand nach einiger Zeit, dass das Schreckensszenario mit den Großeltern und den Enkelkindern, total falsch war. Man hätte den Leuten, den Großeltern, die sich nicht in den Altersheimen befinden, die Wahl geben müssen, ob sie das Risiko eingehen oder nicht. Was natürlich psychologisch gerade für die Kinder schlimm gewesen wäre, die dann vielleicht damit leben müssen, dass sie die Eltern anstecken. Aber wenn man mit 76, 80 oder 85 zum Schluss kommt, dass es zwar ein Risiko ist, aber ohne den Kontakt mit Kindern und die Zeit, die mir dadurch gestohlen wird, mein Leben aber um so viel ärmer ist, was soll es? Diese Entscheidung hätte man den älteren Menschen als Zeichen, dass man ihnen vertraut, lassen können. Es gibt ja genug, die es sowieso einfach aus Angst nicht getan hätten. Aber wenn ein 95-Jähriger sagt, dass es ihm wurscht ist, ob er heute oder morgen stirbt, er aber seine Kinder und Enkelkinder um sich haben will, voilà!
Frau Dr. Rohrer, ich danke Ihnen für Ihre Zeit!
Ausdrücklich möchte ich mich hier an dieser Stelle nochmals beim Café Ritter Ottakring, bei dessen Geschäftsführerin Dr. Martina Postl und Herrn Andreas bedanken, die uns während des Lockdowns die Räumlichkeiten des Kaffeehauses für das Interview zur Verfügung stellten.