FREIGEDACHT

Kalter Rauch

2. April 2019

In einer Welt, in der das Perfekte den Vorrang genießt, wird das Widerliche zu einer mit großer Anziehungskraft ausgestatteten Opposition. Es ist die Übersättigung des Schönen, des Glatten, des Weichen, die mich antreibt, in neue, abgründige Welten abzugleiten.

Überall nur mehr wohl durchdachte Phrasen, keiner formuliert mehr direkt, in manchen Gesichtern findet sich ein Grinsen wieder, das nur knapp nicht die Mundwinkel reißen lässt. Achtsamkeit wurde zum Modewort. Indoktrinierend wird es in sämtlichen Workshops und Kursen in die Schädel der Teilnehmer gestreichelt. Mit der Hoffnung, dass diese es potenzierend weitertragen und die Welt zu einem besseren Ort machen. Es wird zum Mantra für alle auf dieser Welt wandelnden Halbengel, die dieses Wort in jeden ausgesprochenen Satz und in jede effektive Handlung einfließen lassen. Wie als wollten sie nur mehr Freund sein. Kein Hass, keine Verabscheuung, kein Schmerz.

Doch was ist es, was mich an einem Menschen anzieht? Was ist es, was mich reizt? Keinesfalls die schöne Silhouette einer sich aus übertriebener Achtsamkeit verbiegenden Persönlichkeit. Nein, es ist das Dunkle, das meine Faszination weckt. Es sind die Laster, es sind die Falten, es sind die Ausbrüche. Nicht zu sein, wie es der Welt guttut, sonder zu sein, wie man ist. Entfesselt und ehrlich. Oder auch gehemmt und ehrlich. Hauptsache ehrlich. Wie sehr widert mich das in unserer Gesellschaft als perfekt Konstruierte an, und wie sehr begeistert mich das Fehlerhafte. Die nicht inszenierte Unvollkommenheit ist es, die uns Türen öffnet. 

Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Es braucht den Mut, sich zu verschwenden. Es braucht die Courage, sich gegen die Achtsamkeit zu stellen. Es braucht die Kraft, die Selbstzerstörung zu forcieren. So hat mich meine, diese scheinbar perfekte, von den sozialen Medien stückweise ruinierte Generation in die verbrauchten Hände der Verdorbenheit getrieben. Auf der Suche nach Ehrlichkeit. Auf der Suche nach Authentizität. Auf der Suche nach Greifbarem. Auf der Suche nach einem Paradies, in dem die Sünde zum Gebot wird. Einmal gefunden und erlebt, wird das Bruchstückhafte zur vollendeten Perfektion. 

Wenn man sich darauf einlässt, auf das Widerliche, auf den Schmerz, auf die Verschwendung, auf die Selbstzerstörung und in letzter Konsequenz auch auf die Liebe, kann sogar so etwas grundsätzlich Abstoßendes wie kalter Zigarettenrauch, der sich hartnäckig in jede Faser eines Kleidungsstücks einnistet, die erfrischendste Erfahrung am Morgen danach sein. 


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