Eigentlich hätte ich den Verhaltensforscher Prof. Dr. Kurt Kotrschal im März in dem von ihm mitbegründeten Wolf Science Center im niederösterreichischen Ernstbrunn zum Interview treffen sollen. Diesen Plan durchkreuzte das Corona-Virus und dessen Ausbreitung. Darum haben wir uns rund zwei Monate danach im Privathaus des 67-jährigen Biologen im schönen Almtal in Oberösterreich zum Gespräch eingefunden.
Seine beiden Eurasier-Hunde erwarteten mich schon neugierig, aber zurückhaltend an der Tür. „Einfach nicht beachten“, meinte der Autor von neun Büchern über Wolf, Hund und Mensch. Bolita, seine 14-jährige Eurasier-Hündin und Teil meines Begrüßungskomitees, half bei der Aufzucht der Wölfe im Forschungszentrum in Ernstbrunn.
Wahrscheinlich wären wir im Garten neben dem Teich gesessen, aufgrund des bereits seit Tagen andauernden Regens, haben wir uns für den gemütlichen Wintergarten entschieden. Sehr entspannt und offen hat mir der renommierte Wissenschaftler und Professor an der Universität Wien Fragen über das Verhalten der Menschen in der Corona-Krise, über die Beschaffenheit unserer Demokratie und ob unser System dazu imstande ist, die großen Problems zu lösen, beantwortet.
Andreas Kirchner: Herr Prof. Kotrschal, wenn man Ihre letzten Buchtitel ansieht, liegt vom Wolf über den Hund jetzt in den letzten beiden Büchern der Mensch im Zentrum Ihrer Betrachtung. Hat sich Ihr wissenschaftlicher Fokus verschoben?
Prof. Dr. Kurt Kotrschal: Verhaltensbiologen haben einen evolutionären Blick. Das heißt, wir gehen an die Fragen immer vergleichend heran. Wenn ich wissen will, warum manche Tiere seltsame Dinge tun, kann ich das nicht erklären, indem ich mich nur auf diese Art konzentriere. Sondern muss schauen, was die Verwandtschaft macht. Dasselbe gilt beim Menschen. Es gibt keinen prinzipiellen Betrachtungsunterschied beim Menschen im Vergleich zu anderen Tieren. Das gab es auch nie in der Lehre. Nachdem in den letzten zehn bis zwanzig Jahren unglaubliche Mengen an relevanter Information zur Natur des Menschen aufgetaucht ist, wollte ich es versuchen, wieder einmal einen Gesamtüberblick über die menschliche Natur zu geben. Manche Leute meinen, dass es die gar nicht gibt. Das sind natürlich Leute, die keine Ahnung von Evolution haben. Geistes-wissenschaftler, die glauben, sie können Menschen erklären, wenn sie sich nur auf Menschen konzentrieren. Das geht nicht. Den Menschen kann man eben nur dann evolutionär erklären, wenn man einen evolutionären Blick aufsetzt.
In Ihrem letzten Buch schreiben Sie: „Menschen wurden zu den sozial komplexesten aller „Kooperationstiere“, zu den mit Abstand nettesten aller Menschenaffen – auch wenn der täglich Blick in die Medien anderes suggeriert.“
Kann man es kurz wie folgt zusammenfassen: Der einzelne Mensch ist nett, die Menschheit als Gesamtes ist grausam?
Nein, das kann man nicht. Die Menschheit an sich gibt es gar nicht, sondern eigentlich nur einzelne Menschen. Interaktionen zwischen Menschen ergeben Gruppen und Gesellschaften, aber die Menschheit als sozial-soziologische Einheit gibt es nicht. Es gibt sie auch nicht als funktionelle Einheit.
Die von der UNO herausgegebene “Weltbevölkerungsprognose” aus dem Jahr 2017 prognostiziert, dass die Weltbevölkerung im Jahr 2050 9,8 Milliarden und im Jahr 2100 11,2 Milliarden erreichen wird. Sind wir zu viele auf diesem Planeten?
Natürlich, ökologisch gesehen auf jeden Fall. Es kommt aber darauf an, wie man es betrachtet. Es ist aber auch interessant, dass wir so viele sind. Vor allem, weil wir über die digitalen Medien in Echtzeit erfahren, was der Antipode am Ende der Welt macht. Wenn in Australien ein Koala vom Baum brennt, erfahren wir das mehr oder weniger live. Das ist natürlich nicht uninteressant. Von der Tragekapazität sind wir eigentlich schon längst drüber. Vor allem, wenn man davon ausgeht, dass man allen Menschen einen menschenwürdigen Lebensstandard zubilligen muss.
Wenn wir uns alle einigen von zehn Dollar am Tag zu leben und unsere Ansprüche herunterschrauben, sind wir eigentlich noch nicht zu viel. Aber da wir das nicht tun, sind wir zu viel. Jener Tag im Kalender, an dem wir alle Ressourcen pro Jahr verbraucht haben, ist in der Zwischenzeit Ende Juli. Das hat sich in den letzten zwanzig Jahren vom Ende des Jahres auf Ende Juli verschoben. Dies zeigt schon, dass wir viel zu viele sind und überhaupt nicht nachhaltig wirtschaften.
Wird die Corona-Krise in diesem Bereich ein Umdenken bringen?
Die Corona-Krise hat uns ein bisschen geholfen, den Verkehr zurückzuschrauben. Einer der interessanten Aspekte in diesem Zusammenhang war, dass der CO2-Gehalt der Atmosphäre nicht sinkt. Es müssen also viel drastischere Maßnahmen her, um langfristig in dieser Biosphäre zu überleben. Das sehe ich einfach nicht. So gesehen sind wir zu viele Menschen auf der Erde.
Ist das nicht auch ein Verteilungsproblem?
Die Idee, dass man mit entsprechender Landwirtschaft 10 Milliarden Menschen und mehr auf der Erde ernähren kann, halte ich für kurzfristig möglich, aber nachhaltig ist das nicht. So wie Landwirtschaft momentan betrieben wird, geht das noch ein paar Generationen und dann ist Schluss. Im Moment sind Hungersnöte und Armut noch ein Verteilungsproblem, das ist richtig.
Wir verbrauchen aber nicht nur zu viele Ressourcen, sondern auch zu viel Land. Das hat zu einer unglaublichen Vernichtung von Lebensräumen in den letzten 60 Jahren geführt. Das Ergebnis sehen wir in der größten Biodiversitätskrise seit 66 Millionen Jahren. Auch in Österreich sind 60 Prozent der Abundanzen der Insekten und 20 Prozent der Arten generell weg. Jetzt schon! Wir werden in unserer Lebenszeit noch wirklich crashen. Ohne Insekten wird unser Ökosystem nicht funktionieren, es wird kein Obst und keine Singvögel geben. Alles hängt mit allem zusammen. Im Moment sind wir sehr auf die Energiewende fokussiert. Aber nicht einmal unsere Umweltministerin oder die Grünen haben irgendwas in Richtung Artenschutz am Hut. Dabei sind das die zwei Seiten einer Medaille. Du kannst nicht das eine ohne das andere machen.
Mit dem Drehen an wenigen Schrauben wäre viel zu erreichen.
Mit welchen Maßnahmen kann man der Überpopulation des Menschen menschenwürdig entgegenwirken?
Ja, wir sind zu viele. Das heißt aber nicht, dass jetzt 2 Milliarden weg müssen. Es gibt ja durchaus zukunftsträchtige Konzepte, wie man langsam den Anstieg einschleifen kann. Weltweit gehen überall dort Geburtenraten zurück, wo weibliche Bildung entsprechend favorisiert wird. Auch in Afrika ist das ganz klar zu sehen. Mit dem Drehen an wenigen Schrauben wäre viel zu erreichen. Eigentlich wissen wir, was zu machen wäre.
Ihr letztes Buch „Sind wir Menschen noch zu retten?“ ist ein Plädoyer für die liberale Demokratie. Wie liberal darf eine Demokratie sein, um die großen Probleme der Menschheit wie Hungersnot, die Klimakrise oder jetzt aktuell die Corona-Krise zu bewältigen?
Wenn es mehr als zwei Leute auf der Welt sind, braucht es irgendeine Art von sozialer und politischer Organisation. Ohne geht’s nicht. Seit dem Sesshaftwerden wogt vor allem zwischen den starken Männern die ständige Rangelei zwischen Macht in den Händen weniger oder eines Alleinherrschers. Von den Verhaltensdispositionen ist das durchaus biologisch begründet. Hier kann man die Verbindung zwischen den Reproduktionsinteressen der Männer und der patriarchalen Herrschaft sehen. Das patriarchale System ist kein soziologisches, sondern grundbiologischens Konzept.
Eine Gesellschaft funktioniert umso besser, je partizipativer sie ist. Da hat man nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die Kreativkräfte beider Geschlechter involviert. Das bringt Individuen die besten Voraussetzungen für ein zufriedenes Leben. Eine balancierte Emotionalität ist wiederum die beste Voraussetzung für ein langes und gesundes Leben. Das erreicht man, indem man die Leute nicht einfach dumm sterben lässt, sondern zivilgesellschaftlich und politisch an den Dingen beteiligt.
Eine weitere Frage ist, welches System wir brauchen, um die bereits bestehenden Risiken, vor allem die ökologischen Probleme der Welt, zu lösen oder zumindest damit zurecht zu kommen und nicht völlig gegen die Wand zu fahren. Eigentlich ist dazu nur eine ordentliche Demokratie in der Lage. Es ist natürlich ein bisschen kontraproduktiv, weil wir gerade in einer Demokratie in den Parlamenten herumstreiten. Manche Leute meinen, da brauchen wir einen, der auf den Tisch haut und sagt, wo es lang geht. Das sind lauter Leute, die geschichtlich unbelegt sind. Wenn man in der Geschichte zurückschaut und die aktuelle Situation damit vergleicht, kann man nicht zu diesem Schluss kommen. Schauen Sie sich die Trumps, die Orbans, die Erdogans und Putins der Welt an. Wer hat etwas von der Herrschaft der starken Männer? Das sind keine Menschen, die die Lösung der großen Probleme im Auge haben. Das sind Menschen, deren Clans reich werden und die die Partikularinteressen favorisieren. In Amerika war die Umverteilung von unten nach oben noch nie so stark wie unter Trump. Ich weiß nicht, ob er zu dumm ist, ich glaube es aber nicht. Das hat natürlich System. In Putins Russland dasselbe. Gewisse systemkonforme Oligarchen werden reich und die anderen nicht. Das ist das durchgehende Muster. Von der Herrschaft des starken Mannes, hat der starke Mann und sein Clan etwas, aber die Leute prinzipiell nicht. Den 40 Prozent der Österreicher, die sich manchmal die Herrschaft des starken Mannes wünschen, hat man – das ist jetzt ein bisschen unvornehmer – aber hat man eigentlich ins Hirn geschissen. Es ist wirklich unpackbar.
Was ist das beste Mittel gegen Populisten dieser Art?
Man kann nur in Bildung setzen. Es muss ja auch einen Grund geben, warum die Leute in die Hände irgendwelcher Populisten laufen. Das sind ja nicht lauter blöde Leute, da ist zum Teil viel Frust dabei. Der Frust, der daher kommt, weil wir in den letzten zwei Jahrzehnten in einer durchaus sehr neoliberalen Demokratie gelebt haben. Auch bei uns hat sich die Umverteilung von oben nach unten verschoben. Auch bei uns sind seit zehn bis fünfzehn Jahren die Grundgehälter nicht gestiegen. Wirtschaft funktioniert nur mehr als Geldbeschaffer für die, die die Shareholder sind.
In den Vereinigten Staaten haben es die Fluglinien in den letzten fünfzehn Jahren vollkommen vernachlässigt, neue Maschinen anzuschaffen und in ihr Personal zu investieren. Es wurde alles vollkommen brach liegen gelassen, weil sie Milliardenvermögen in Aktien angelegt haben. Jetzt in der Krise rufen sie lautstark nach dem Staat. Das ist ein typisches Beispiel für Umverteilung von unten nach oben. Genau das funktioniert bei uns auch im Moment. Es wird damit argumentiert, Arbeitsplätze zu retten und in Wirklichkeit müssen wir vor allem die großen Firmen retten. Die Großen steigen wesentlich besser aus der Krise aus, als die Kleinen. Die Kleinen interessiert im Prinzip eh keine Sau.
Ist es für Sie persönlich eine Option, in die Politik zu gehen?
Nein, weil ich genau weiß, dass es nicht funktioniert. Ich bin weder persönlich geeignet, noch würde ich genügend erreichen können. Ich bewundere die Leute, die es machen. Es klingt vielleicht ein bisschen zynisch, was ich sage, aber die Lehre aus dieser Geschichte ist natürlich nicht, nicht in die Politik zu gehen. Man muss schon etwas tun. Man muss vor allem aus der Scheindemokratie, in der wir jetzt leben, eine wirkliche Demokratie machen. Demokratie ist nicht funktionell, weil wir regelmäßig wählen gehen. Demokratie ist dann funktionell, wenn die richtigen Leute im Parlament sitzen und wenn es eine Zivilgesellschaft gibt, die den Mächtigen auf die Finger schaut und wenn die Politik einen Dialog mit der Zivilgesellschaft pflegt. Das passiert im Moment nicht oder zumindest nicht gern. Man kann aber auch nicht von Herrn Kurz verlangen, dass er hergeht und sagt „Bitte kritisiert mich, wo ist die Zivilgesellschaft?“. Da müssen die Vertreter der Zivilgesellschaft – das sind die NGOs, das sind wir alle – hergehen und entsprechend ihren Standpunkt vertreten.
Diese Menschen stehen an der Wand, versuchen aber devot zu sein.
Ist es um die österreichische Demokratie wirklich so schlecht bestellt?
So schlecht funktioniert es in Österreich eh nicht. Es könnte schlimmer sein. Allein im Umkreis muss man ein bisschen verzweifeln. Wenn man überlegt, dass vor mittlerweile drei Monaten mit einem Federstrich die Universitäten geschlossen und die Wissenschaftler nicht mehr in die Labors gelassen wurden. Und was hat man gehört? Nichts. Es hat einen riesigen Schaden angerichtet bei vielen, die ihre Experimente nicht mehr fortführen konnten. Diese Menschen stehen an der Wand, versuchen aber devot zu sein und möglichst genau die Vorschriften einzuhalten, anstatt sich hinzustellen und zu sagen: „Seid ihr wahnsinnig? Was macht ihr da?“. In den ersten drei Wochen waren wir eigentlich alle am Dampfer – das hat ja auch funktioniert. Aber was jetzt läuft mit diesen Maskenpflichtgeißlerübungen ist vollkommen wahnsinnig.
Weil es nichts bringt?
Natürlich bringt es nichts. Es ist medizinisch unsinnig. Ganz einfache Maßnahmen, wie Abstand halten, bringen schon etwas. Aber mit der Maske noch dazu im Freien herumrennen, ist vollkommen irre.
Wie geht es Ihnen grundsätzlich als Verhaltensforscher, wenn Sie unsere Gesellschaft in der Corona-Krise betrachten? Das muss für Sie ja gerade eine ungemein spannende Zeit sein.
Es ist nicht unerwartet, wie sich die Leute verhalten. Das merkt man auch an einem selbst. Obwohl ich vorher gesagt habe, dass der starke Mann nicht die Lösung ist, liegt es in der menschlichen Natur, dass man gern in einer kohäsiven Gemeinschaft unter einer klaren Leadership lebt. Gegen eine repräsentative Demokratie ist ja nichts einzuwenden. Du wählst Leute und einen bestimmten weltanschaulichen Zuschnitt, die für die nächsten Jahre die Entscheidungen treffen und die Zivilgesellschaft mischt sich ein. Aber es ist nicht so, dass sie dann für jeden Käse eine Volksabstimmung veranstalten sollten. Dafür haben wir sie nicht gewählt. So gesehen wählen wir Leadership.
Hätten Sie es erwartet, dass unsere repräsentative Demokratie so handlungsfähig ist? Das ist ja nicht nix, was da in den letzten Monaten passiert ist.
Wir haben die Demokratie lange mit Vorwürfen wie „Die bringen ja nichts zusammen“ oder „Das ist nur Symbolpolitik“ kritisiert. Dann wurde übers Kopftuch und die Präventivhaft diskutiert. Alles ohne Reformen. Und dann von einem Tag auf den anderen waren die bürgerlichen Freiheiten weg. Das war natürlich nicht angenehm. Aber andererseits hat man schon gestaunt, was eine repräsentative Demokratie kann. Das ist ja durchaus nicht nur negativ, es hat das Vertrauen in diese Demokratie schon gestärkt. Dass es natürlich diesen 40 Prozent gefällt, die sich schon immer diesen starken Mann gewünscht haben, ist eh klar. So gesehen überrascht es nicht, dass die Bevölkerungen weltweit hinter ihren Regierungen standen. Man fragt sich ja auch, warum die Umfragewerte der Regierungen nach diesen Maßnahmen so hoch sind? Aber das ist dieser psychologische Effekt.
Wie lange machen die Menschen das noch mit bzw. wie werden sie sich bei einem zweiten Lock-Down verhalten?
Es wundert mich nicht, dass es schön langsam zu Bröckeln beginnt. Diese Art von Solidarität hält nicht ewig. Neben dem Wunsch, gut eingebettet zu sein und ein gutes Leadership zu haben, wollen wir Menschen auch gerecht behandelt werden. Wir haben einen extremen Sinn für Gerechtigkeit, was einen selbst und nicht die anderen betrifft. Wenn man in der Kirche zwei Meter Abstand halten muss, aber im Wirtshaus darf man die Köpfe zusammenstecken, dann ist auch vorhersehbar, dass die Leute abspringen. Die Frage, wie lange die Leute noch mitmachen bei den Maßnahmen bzw. was passiert, wenn eine zweite Welle kommt, ist relativ einfach zu beantworten. Wenn die Regierung es schafft, eine kritische Masse dazu zu bringen, konform zu gehen, werden die anderen auch mitmachen. Fünf Prozent kriegst du nie, fünf Prozent sind immer dagegen.
Haben Sie Verständnis für diese fünf Prozent?
Ja, natürlich.
Auch für die, die auf die Straße gegangen sind und gegen die Maßnahmen demonstriert haben? Wenn man zum Beispiel an die Bilder der Demonstrierenden aus den Vereinigten Staaten denkt.
Selbstverständlich. Ich möchte da auch nicht alle als rechte Idioten diffamieren. Solche gibt’s natürlich. Aber einfach herzugehen und zu sagen, alle anders denkenden sind Verschwörungstheoretiker, das geht mir schon viel zu weit. Das ist der beste Weg, alle gleich zu schalten. Man merkt es an den Medien. Der ORF ist zum Teil ein bisschen gefährdet, zum Regierungsfunk zu werden oder ist es schon geworden. Alternative wissenschaftliche Meinungen werden nicht mehr transportiert, sondern diffamiert.
Werden wir uns jemals wieder zur Begrüßung und Verabschiedung die Hand geben?
Mit Sicherheit. Das ist natürlich eine sehr kulturelle Angelegenheit, wie sich Menschen begrüßen. Es liegt nicht in der Natur des Menschen, dass man sich per Handschlag begrüßen muss. Andere Kulturen machen das ganz anders. Obwohl ich selbst natürlich älter geworden bin, habe ich immer das Glück gehabt, mit Leuten zu arbeiten, die zwischen zwanzig und dreißig sind. Das ist meistens nett, manchmal ein bisschen anstrengend. Da ist es nicht mehr so üblich, dass man in der Früh „Guten Morgen“ und am Abend „Guten Abend“ sagt oder man sich bei der Begrüßung die Hand hinstreckt. Das sind Umgangsformern, die auch vorher nicht mehr total üblich waren.
Wird es Spuren in uns hinterlassen, wenn wir monatelang Abstand voneinander halten?
Das Einüben dieser Distanz wird hinterher einen Effekt haben. Wie nachhaltig der ist, wissen wir nicht. Aber dass wir uns unmittelbar nach dem alles wieder in Ordnung ist, vielleicht weniger die Hand geben werden, vielleicht weniger mit Küsschen, Küsschen zwischen fast Fremden begrüßen werden, das glaube ich schon. Das sind eigentlich völlig unbedeutende kulturelle Twists. Was natürlich nicht kulturell bedingt ist, ist das körperliche Kontaktbedürfnis der Menschen. Wir sind soziale Tiere und je jünger die Leute, umso wichtiger ist es. Du kannst einem dreijährigen Kindergartenkind sicher keinen Körperkontakt verweigern und auf zwei Meter Abstand setzen. Das wird einfach nicht funktionieren. Das geht vielleicht bei einem 25-jährigen Schüler und bei uns 60-jährigen sowieso.
Von der Corona-Krise ganz abgesehen: Ist das System, in dem wir jetzt leben, menschengerecht? Oder war es eine Luxusfalle, in die wir mit der Sesshaftigkeit getappt sind?
Sicher. Sonst hätten wir es nicht gemacht. Was ist passiert? Es war ja nicht so, dass die Leute die Landwirtschaft erfunden hätte und dadurch sesshaft geworden sind, sondern umgekehrt. Sesshaft wurde der Mensch zuerst im Hochland von Anatolien und ein bisschen später in Nordindien. Südamerika kam viel später. Dort gab es relativ hohe Wilddichten, die relativ hohe Dichten von Jägern und Sammlern produziert haben. Jäger und Sammler neigen dazu, über relativ große Gebiete eine einheitliche Kultur zu haben. Vor 35.000 Jahren zum Beispiel ist die Mammutjägerkultur aufgepoppt. Das war von Westeuropa bis Sibirien fast gleichzeitig, obwohl Eurasien höchst dünnbesiedelt war. Vor rund 12.000 Jahren wurden die Jäger und Sammler sesshaft, die sehr egalitäre Organisationen hatten. Da gab es keinen Häuptling, der gesagt hat, wo es lang geht. Das ist eine Jäger- und Sammler-Universalie. Natürlich variiert das Ansehen von Leuten, aber es gab keine hierarchische Gesellschaft. Frau, Kinder und Männer sind im Wesentlichen gleichberechtigt. Daraus sollten wir nicht zu viel Getue machen, das ist halt eine Organisationsform. Dann gab es dort natürlich Heiligtümer, um die sich die Leute geschart haben. Andere Leute haben deren Bedürfnisse wie Essen, Unterkunft, Sex erfüllt. Dadurch haben sich natürlich Wohlstand, Reichtum und Ressourcen akkumuliert. Überall dort, wo Ressourcen monopolisierbar sind, werden sie monopolisiert. Das liegt nicht nur in der menschlichen Natur. Das ist ein Prinzip der Verhaltensorganisation aller Wirbeltiere. Meistens machen das Männer, es liegt nämlich im männlichen Interesse ihren Reproduktionserfolg zu wahren. Da könnten wir jetzt lange darüber reden.
Also keine Luxusfalle, in die der Mensch getappt ist.
Ich würde es nicht einmal als biologische Falle betrachten. Es kommt auf die Verteilung der Ressourcen an, welche Gesellschaftssysteme sich entwickeln werden. Die bestimmen dann wieder die Verteilung der Ressourcen. Es ist auch kein Naturgesetzt, dass es immer bei patriarchalen Herrschaftsformen bleiben muss. Sogar im sehr Alten Griechenland – also 3.000 vor Christus – begannen nach der Einwanderung dieser Leute im Gebiet vom heutigen Kleinasien, Griechenland tausende von Stadtstaaten aufzupoppen. Das heißt, jede Gemeinschaft hat sich demokratisch organisiert.
Wir leben in einer eigentlich ziemlich gut funktionierenden Demokratie. Man darf sie nicht krank-jammern. Wir müssen ständig daran feilen und arbeiten, dass es auch so bleibt. Wir müssen ständig kritisch sein, ständig versuchen, sie zu verbessern. Durchaus auch im Sinne der NEOS und anderer rational orientierter Parteien. Dass bei uns nicht alles so super ist, merkt man zum Beispiel, dass die Frauenmorde explodiert sind. Immer noch nach dem Schema: Der Ex killt seine ehemalige Frau, die ihn stehengelassen hat. Das machen Gott sei Dank nicht alle Männer, aber doch erstaunlich viele. Da fragt man sich natürlich, warum ist das so? Die einzige vernünftige Antwort, nachdem wir in Österreich sicher nicht verbrecherischer orientiert sind als woanders, ist, dass der gesellschaftliche Hintergrund noch verdammt patriarchal ist. Schauen Sie sich die Verteilung der Geschlechter und der Einkommen in den unterschiedlichen Berufen an. Es ist auch klar, dass wahrscheinlich die Einwanderung von Leuten aus dem Nahen Osten, die ebenfalls ihr patriarchales Weltbild mitbringen, zu keiner Entspannung beigetragen hat. Allerdings zu sagen, dass die Einwanderer schuld sind, ist auch nicht ganz richtig.
Diese typische Form von sozio-sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder wird man nie ganz wegbringen. Das ist eigentlich auch eine typisch menschliche Geschichte, wenn auch nicht sehr sympathisch. Wieviel davon stattfindet, bestimmt der gesellschaftliche Hintergrund. Je partizipativer die Gesellschaft organisiert ist und je gleichberechtigter die Geschlechter sind, umso weniger wird es von diesen patriarchalen Morden geben. Da nutzt die Strafandrohung gar nichts. Im Moment, in dem der Mann seine Frau erschlägt, denkt er nicht daran, dass er jetzt zwanzig oder dreißig Jahre im Häfn sitzen wird.
Ein Leben mit Männern ist für Frauen nicht immer angenehm oder günstig.
Manche Leute sagen, die Gesellschaft zerfällt und die Mutter Vater Kind Familie gibt es nicht. Sie meinen, wir haben nur mehr Patchwork und Alleinerziehende Frauen. Erstens stimmt das nicht, wir haben immer noch mehr Familien mit Mutter/Vater/Kind. Man muss da auch ein bisschen quantitativ schauen, was sich abspielt. Und zweitens: Wenn die gesellschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen gegeben sind, dass Frauen ihre Kinder allein großziehen können, wird es von der evolutionären Theorie her passieren. Ein Leben mit Männern ist für Frauen nicht immer angenehm oder günstig. Männer sind dann gut, wenn sie für Ressourcenunterstützung sorgen. Aber wenn sie sozusagen sozio-ökonomisch teurer kommen und weniger bringen, als sie kosten, weil sie einem auf den Nerv gehen und lästig sind, lässt sich die Frau scheiden. Der häufigste Scheidungsgrund für Frauen ist, weil der Mann arbeitslos geworden ist. Dann werden Frauen ihre Männer los. Männer werden vor allem ihre Frauen los, weil sie eine Jüngere finden. Das sind einfach evolutionäre Grundregeln. Man kann das sehr gut vorhersagen. Was momentan in der Gesellschaft passiert, ist sehr gut im Einklang mit der menschlichen Natur.
Wie stehen Sie als Biologe zu den politischen Forderungen zum Kindergarten, die zum Beispiel lauten „Mehr Kindergartenplätze“, „Längere Öffnungszeiten“, „Durchgehende Betreuungsmöglichkeit“?
Bei diesen Forderungen habe ich ein bisschen Bauchweh. Diese Forderungen kommen ausschließlich aus den Interessen der Eltern. Dass Frauen arbeiten gehen, ist ja keine Versklavung, sondern ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Wenn die Eltern arbeiten gehen, muss man schauen, dass es für die Kinder eine qualitativ hochwertige Betreuung gibt. Soziale Kinderbetreuung ist keine Erfindung unserer Zeit, das ist eine typisch menschliche Geschichte. Früher war ein bisschen mehr Großfamilie, aber es war immer auch so, dass das Dorf das Kind großgezogen hat, nicht nur die Mutter. Heute sind es Institutionen wie die Kinderkrippe, der Kindergarten, die Schule und Hochschule. Ausziehen tun sie dann eh erst mit 40. Zumindest in Italien. Da ist ideologisch überhaupt nichts daran herumzudeuteln.
Man weiß heute ja auch, was kleine Kinder für die optimale Entwicklung brauchen. Dazu zählt nicht, für eineinhalb bis dreijährige ein Betreuungsschlüssel von eins zu zehn. Schlechter als eins zu drei ist eine Katastrophe. Es gibt klare Daten, die zeigen, dass Menschen, die früh in Fremdbetreuung und in nicht ganz optimalen Bedingungen aufwuchsen, später im Leben mit einer größere Wahrscheinlichkeit mentale Probleme entwickeln. Der Schluss, dass das Kind zur Mutter gehört, ist davon nicht abzuleiten. Der einzig zulässige Schluss ist, dass es qualitativ sehr anspruchsvoll ist, Kinder zu betreuen. Wenn man das der Gesellschaft überträgt, muss diese investieren. Bildungsinvestitionen sollten so laufen, dass man am meisten in Kinderkrippen investiert, dann in Kindergärten und Schulen. Und mein Gott, wie AHS-Schüler betreut sind, ist fast schon wurscht. Die werden nicht mehr seelisch daran zugrunde gehen, wenn sie ein paar Spinner unter den Lehrern haben. Aber bei den Ein- bis Fünfjährigen ist das eine absolute Katastrophe. Die nehmen den Schaden ja ins Leben mit.
Machen wir noch einen Sprung zu den Vierbeinern.
In meinem Umfeld und wenn ich auf der Straße die Leute mit ihren Hunden anschaue, habe ich den Eindruck, dass der Husky als Hunderasse vor allem unter jungen Leuten momentan stark in der Mode ist. Wie sinnvoll ist es, sich in Mitteleuropa einen Schlittenhund zuzulegen?
Das hat nichts mit der geographischer Breite zutun. Die Frage sollte sein: Welcher Hund passt zu mir? Das ist eher eine individuell-gesellschaftliche Entscheidung. Welchen Hund will ich haben? Warum wünsche ich mir überhaupt einen Hund? Will ich ihn als Sozialgefährten? Als Sport-Buddy? Dass der Hund nachher im Bett schläft, ist eh fast selbstverständlich. Oder will ich den Hund als verlängertes Ego? So, dass der Hund mich noch ein bisschen kräftiger erscheinen lässt?
Dessen sind sich die Leute viel zu wenig bewusst, obwohl das ein wichtiger Punkt ist. Menschen werden aufgrund ihres Aussehens innerhalb von Sekundenbruchteilen von anderen beurteilt. Aber noch wichtiger ist das Tier an ihrer Seite. Menschen mit einem netten Hund an der Seite, genießen mehr Vertrauen und kommen einfach sozial besser daher, als Menschen ohne Hund. Das mag einen wundern, aber dieser Effekt ist immer wieder klar zu messen. Es kommt natürlich ein bisschen auf den Hund an. Wenn ich heute mit einem Golden Retriever oder meinen Eurasiern durch die Gegend gehe, werde ich gelegentlich angesprochen und habe ein nettes Gespräch. Ich weiß nicht, ob das auch so wäre, wenn ich einen Listenhund, wie einen Dogo Argentino oder einen Staffordshire Terrier, hätte.
Man muss sich schon überlegen, wenn ich zu solchen Listenhunden neige – und ich spreche nicht über die Sinnhaftigkeit solcher Listen, sondern über die gesellschaftliche Akzeptanz – warum ich unbedingt einen Listenhund haben muss? Ist es so, dass ich ein bisschen provozieren will mit dem Hund? Will ich eventuell sogar Angst mit den Hund verbreiten? Das sind lauter Fragen, die sich die Leute nicht stellen. Aber das sollten sie. Wenn man schlicht und einfach nett mit einem Hund zusammenleben will, sollte man sich auch überlegen, ob es unbedingt eine Rasse sein muss, deren Image gesellschaftlich angekratzt ist. Nicht immer ganz zu unrecht.
Meistens sind die Fragen viel harmloser. Wünsche ich mir einen lebhaften Hund? Bin ich jemand, der jeden Tag joggt? Dann wird wahrscheinlich ein lebhafter Hund zu mir passen. Unabhängig von der Rasse, da gibt es auch innerhalb der Würfe große Unterschiede. Oder bin ich eher ein Couch-Potatoe? Viel zu oft wählen Menschen die Hunde nach dem Aussehen aus. Sie haben Huskys erwähnt, das ist so ein Fall. Den Leuten muss man klar sagen: Huskys sind nette Hunde, sehr menschenfreundlich, binden sich aber nicht sonderbar stark. Huskys ist es fast wurscht, in wessen Begleitung sie unterwegs sind. Und sie jagen wie die Hölle, weil es eine alte Schlittenhundrasse ist, die sich über Jahrtausende selbst ernähren musste. Wenn man einen Husky von der Leine lässt, ist es ganz schwer den Jagdtrieb zu kontrollieren. Meistens ist der Hund weg. Wenn ich das nicht will, wenn ich meinen Hund nicht lebenslang an der Leine herumschleppen will, sollte ich mir vielleicht einen anderen Hund zulegen. Daheim sind Huskys wunderbar ruhige und nette Hunde, da gibt’s überhaupt nichts. Oder wenn ich weiß, dass ich gern spazieren gehe, aber nicht täglich Sport mache, dann sollte ich mir überlegen, ob ich wirklich einen Border Collie brauche. Es gibt jede Menge Fälle, in denen sich Leute diese wunderhübschen, lebhaften Hunde zulegen. Eigentlich sind das Arbeitshunde. Wenn diese nicht angemessen beschäftigt werden, bürden sich die Menschen selbst und dem Hund ein Problem für die nächsten fünfzehn Jahre auf.
Warum haben Sie sich für den Eurasier entschieden?
Zunächst aus romantischen Überlegungen, weil es doch wolfsähnliche Hunde sind. Dann hat sich durch genetische Untersuchungen herausgestellt, dass das mit der Wolfsähnlichkeit stimmt. Eurasier, Spitze, ursprüngliche Windhundrassen gehören zu der Gruppe von Hunderassen, die genetisch noch relativ wolfsähnlich sind. Nicht weil Wölfe eingekreuzt wären, sondern weil sie die Hunde der Jäger und Sammler waren. Wolfspitze haben in Europa etwa seit der Steinzeit überlebt. Das bedeutet nicht viel Anderes, als dass man einen sozial relativ feinfühligen und responsiven Hund hat, der nicht unbedingt so gut trainierbar ist, wie ein Border Collie. Aber auch nicht ständig dem Bällchen hinterher laufen will. Eurasier sind relativ ruhige Hunde, nicht allzu jagdorientiert. Ein Familienhund, der nicht ununterbrochen etwas machen will und andererseits auch ein bisschen auf Haus und Garten aufpasst. Einfach ein Allround-Hund ohne eine ausgeprägten Verhaltensneigung in irgendeine Richtung, die die meisten Arbeitsschläge mitbringen. Nicht vergessen, dass die meisten unserer Begleithunde wie Golden Retriever, Labradors oder aus anderen Bereichen wie die Deutschen oder Belgischen Schäferhunde, aus Arbeitsschlägen kommen. Deren Vorfahren waren Jagdhunde und Schutzhunde mit bestimmten Eigenschaften. Diese Eigenschaften geben die Welpen ja nicht beim Züchter ab, sondern bringen sie immer noch mit. Ungefähr zehn Prozent der Hundepopulation sitzt im Tierheim. Das sind vor allem diese Listenhunde, mit denen sich die Leute offenbar übernommen haben. Das zeigt, dass nicht alle Mensch-Hund-Beziehungen funktionieren, sonst wäre der Hund nicht im Tierheim gelandet.
Wölfe, Schakale, Bären und Luchse wird es demnächst überall in Österreich geben und wir werden uns daran gewöhnen müssen.
Sie haben als Wolfsforscher große Bekanntheit erlangt und viel zum Wissen über den großen Beutegreifer beigetragen. Die Präsenz von Wölfen in Österreich nimmt in den letzten Jahren zu. Ist es möglich, dass sich demnächst im Nationalpark Donau-Auen ein Wolfsrudel ansiedelt?
Natürlich, aber unsere Nationalparks sind für Wölfe viel zu klein. Jungwölfe, die ihr Rudel verlassen, wandern hunderte, wenn nicht tausende Kilometer, um dort neue Partner zu finden. Ein Rudel von vier bis acht Wölfen – wenn die Nahrungsversorgung am Ort gut ist, und da meine ich nicht Schafe, sondern Wilddichten – brauchen bis zu 250 und 350 Quadratkilometer. Wölfe halten aus ihrem Territorium auch andere Wölfe raus. Die Idee, dass die Wolfsdichten immer weiter steigen, ist vollkommen falsch. Wenn wir einmal genügend Rudel haben, sorgen die dafür, dass keine weiteren Wölfe mehr reinkommen. Es gibt internationale Abkommen und auch Artenschutzbestimmungen in Österreich, wo wir uns mehr oder weniger verpflichten, mit Wildtieren zu leben. Das kann natürlich nicht so sein, dass sämtliche Wildtiere auf die Nationalparks beschränkt sind, außer die bejagbaren Nutztieren wie Rehe und Hirsche. Entweder, wir leben mit Wölfen vor der Haustür oder es gibt sie bei uns nicht. Dass es sie bei uns nicht gibt, ist keine Option. Wölfe werden immer stärker ins Land kommen. Österreich wird eines der letzten von Wölfen besiedelten Länder sein, weil wir die alte Unkultur des illegalen Abschusses haben. Das ist in Österreich viel stärker vertreten als irgendwo anders. Österreich ist auch Population Sink für viele Greifvögel. Österreich ist in der Mitte Europas ein Schandfleck, was den Naturschutz betrifft. Da muss sich demnächst etwas tun. Nationalparks sind gut und schön, man sollte auch schauen, die Flächen zu vergrößern. Insgesamt haben wir ein paar Prozent der Landesfläche als Nationalparks. Viel mehr wird es nicht spielen, weil die anderen Flächen unter Bewirtschaftung stehen. Insofern werden wir es nicht schaffen, die Wildtiere nur in den Nationalparks zu hegen, aber nicht dort wo wir leben. Wölfe, Schakale, Bären und Luchse wird es demnächst überall in Österreich geben und wir werden uns daran gewöhnen müssen.
Wann waren Sie das letzte Mal so richtig neugierig?
Neugierde ist eigentlich ein Dauerzustand.
Das ist schon einmal gut für einen Wissenschaftler.
Ich kann es nicht abschätzen, wann ich das letzte Mal neugierig war. Da fällt mir jetzt gar nichts ein.
Liegen Sie manchmal draußen im Garten und schauen in die Sterne?
Nein. Ich bewundere sie und weiß, dass sie da sind. Das ist super. Meine Neugier ist nicht darauf fokussiert. Was mich manchmal wirklich aus der Bahn wirft vor Neugierde, wenn irgendwelche Neuigkeiten aus der Wissenschaft auftauchen. Dann denke ich mir: „Boah, das ist ja unglaublich!“ Wie zum Beispiel vor kurzem von Ronald Kröger, einem deutschen Kollegen, der schon seit ewiger Zeit in Schweden arbeitet. Er kam mit der Geschichte daher, dass das feuchte Rhinarium (Anm.: ein durch Schleimhaut gebildeter Bereich um die Nasenlöcher von Säugetieren) von Hunden, Wölfen und Säugetieren überhaupt, ein Thermorezeptor ist. Hunde und andere Säugetiere haben deswegen eine feuchte Nase, weil sie damit Infrarotstrahlung wahrnehmen können. Kröger hat das anatomisch gezeigt. Hunde haben eine ähnliche Anatomie was die Nervenendigungen in ihrem Rhinarium betrifft, wie die Grubenorgane von Klapperschlangen. Das haut mir einfach die Ketten raus! Jetzt kennen wir den Hund seit rund 35.000 Jahren, aber auf die Idee, dass die Nase bzw. der Nasenschwamm ein Thermorezeptor ist, ist noch keiner gekommen. Das mag nicht so wichtig erscheinen, aber es gibt mitten unter uns immer wieder neue Entdeckungen, die einen völlig überraschen.
Der Grund, warum ich wegen den Sternen nachgefragt habe ist, weil Sie in ihren beiden letzten Büchern fast ein bisschen spöttisch über die Menschen schreiben, die von der Expansion ins Weltall träumen. Sie nennen sie die „Silicon Valley Boys“. Aber es gibt ja auch durchaus seriöse Wissenschaftler, die in diese Richtung forschen.
Es ist ja nichts Falsches, zu schauen, wie wir es schaffen, Leute für längere Weltraumreisen fit zu machen. Das ist interessant, aber nicht sehr erfolgversprechend. Menschen sind psychisch nicht dafür gebaut und mit der Weltraumstrahlung werden wir auch nicht zurechtkommen. Trotz aller Schutzmaßnahmen kriegt man sie da oben ab, das ist vermutlich biologisch nicht zu lösen. Diese Art von Grundlagenforschung in die Richtung einer begrenzten bemannten Raumfahrt wirft aber natürlich viel ab. Ohne dem hätten wir viele technologische Innovationen nicht. Hätte es den Wettlauf um den Mond nicht gegeben, hätten wir das Internet erst viel später bekommen. Aber zu glauben, dass es egal sei, wenn man die Erde ruiniert, weil dann siedeln wir halt auf den Mars aus, ist furchtbar dumm.
Wenn man sich über die evolutionäre Zukunft des Menschen Gedanken macht, sollte man nicht allzu optimistisch sein.
Wird auch nicht funktionieren, wahrscheinlich. Weg müssen werden wir als Menschheit aber irgendwann von diesem Planeten. Spätestens wenn die Sonne so weit aufgebläht ist, bis das Leben hier unmöglich ist.
Da mache ich mir keine Sorgen. Das ist so lang hin, da gibt es mit Sicherheit keine Menschen mehr. Alle Arten haben eine Halbwertszeit. Den Homo Sapiens – also uns Menschen, wie wir jetzt sind – gibt es seit maximal 1,5 Millionen Jahren. Wenn man sich über die evolutionäre Zukunft des Menschen Gedanken macht, sollte man nicht allzu optimistisch sein. Die Hirnevolution wird nicht mehr allzu viel hergeben. Wir sind unglaublich ökologische Generalisten, aber was die Kognition und die Hirnevolution betrifft, sind wir hochspezialisiert. Das ist ein Argument, warum es von uns her gesehen nicht mehr viel weiter gehen wird. Das Wahrscheinliche ist: Solange wir unsere Kultur ordentlich pflegen, wird uns unser kulturelles Potenzial am Leben erhalten. Aber es ist unwahrscheinlich, dass es uns ewig geben wird. Wann wird uns die Sonne grillen? Wissen Sie das auswendig?
In 500 Millionen Jahren soll die Sonnenaktivität so zugenommen haben, dass die Erde nicht mehr lebensfreundlich ist.
Wenn es da noch Menschen geben würde, würde mich das sehr überraschen. Vor allem, weil ich da selbst auch nicht mehr da bin. (lacht)
Herr Prof. Kotrschal, vielen Dank für Ihre Zeit!