NACHGEFRAGT

„Die Korrektur ist der Kompromiss“

14. November 2021

Es ist einer dieser Tage, an dem sich der Herbst von seiner besonders schönen Seite zeigt. Im geschichtsträchtigen Garten des früheren Wohnhauses Bruno Kreiskys weht das bunte Laub im warmen Oktoberwind, während ich mit Franz Vranitzky aus dem Fenster blicke und über die Farben des Herbstes sinniere. Die kräftige Vormittagssonne lässt sie in besonderer Pracht erstrahlen, da sind wir uns einig. Es ist diese angenehme Art von Smalltalk, die den Einstieg ins eigentliche Gespräch leichter macht.

Franz Vranitzky war der letzte Bundeskanzler der jüngeren Geschichte, der freiwillig aus dem Amt geschieden ist. In einer neuen Biografie der Journalistin Margaretha Kopeinig blickt er auf seine Jahre als österreichischer Regierungschef (1986 bis 1997) zurück und spricht über die Sozialdemokratie sowie Werte, die man wiedergewinnen sollte. Im Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog treffe ich den früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Österreichs wenige Wochen nach der Regierungskrise zum Interview über Sebastian Kurz, guten und schlechten politischen Stil, den Streit in der SPÖ und die Wichtigkeit, Haltung zu haben und zu bewahren.

Andreas Kirchner: Die politische Biografie „Franz Vranitzky. Politik mit Haltung“ der Journalistin Margaretha Kopeinig ist mitten in der jüngsten Regierungskrise erschienen, in der auch viel von Haltung und Anstand die Rede war. Was bedeutet Haltung für Sie?
Dr. Franz Vranitzky: Mir geht es dabei nicht darum, den Anschein des Moralisierens zu erwecken oder jemandem vorzuschreiben, wie er sich benehmen soll. Was mich betrifft, so habe ich bestimmte Grundsätze im Leben, die sich aufgrund meiner Beziehung zu meinen Eltern, zu meiner Frau und zu meinen erwachsenen Kindern entwickelt haben. Es geht um diese Grundsätze – und darum, diese auch bei Widerständen nicht zu ändern.

Wie verhält es sich mit Haltung im politischen Alltag, in dem man nahezu ständig Kompromisse eingehen muss?
Die Korrektur ist der Kompromiss. Gerade in der Politik, wo es darum geht, Lösungen zu finden, erforderliche Handlungen zu setzen, kommt die Haltung in ein interessantes Stadium. Ich muss zu einem Kompromiss bereit sein, meine Kompromissbereitschaft darf aber nicht so weit gehen, dass ich meine grundsätzliche Haltung total aufgebe.

An welchem Punkt in Ihrer Zeit als Bundeskanzler war es am schwierigsten, Haltung zu zeigen?
Es gab naturgemäß schwierige Phasen. Außenminister Alois Mock hat etwa in der Jugoslawien-Krise die Meinung vertreten, Österreich solle Slowenien und Kroatien im Alleingang als selbstständige Staaten anerkennen. In Europa war sonst niemand bereit dazu. Mock hat die Meinung vertreten, Österreich sei besonderer Balkan-Kenner aufgrund der langen Erfahrung in der Monarchie. Wenn Österreich sich als Schrittmacher an die Spitze setzt, werden die anderen europäischen Staaten nachziehen. Dem habe ich widersprochen. Der Vorreiter ist kein Vorreiter, wenn niemand nachreitet.

Wie sehen Sie die Waldheim-Affäre im Rückblick?
Da bin ich vielfach angesprochen worden, die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit dem Bundespräsidenten einzustellen und das auch öffentlich zu erklären, als Signal, dass er unerwünscht ist. Obwohl ernstzunehmende Leute diese Forderung an mich herangetragen haben, habe ich das nicht gemacht. Ich ging davon aus, dass trotz der massiven Kritik an diesem Bundespräsidenten der Bundeskanzler seine Verantwortung für das Funktionieren der Institutionen des Staates nicht wegwerfen darf.

Es gibt einen Unterschied zwischen harter Wortwahl und Obszönität. Den muss man kennen und einhalten.

In Norwegen stellt seit Kurzem die Arbeiterpartei den Regierungschef, in Deutschland finden Koalitionsverhandlungen unter Olaf Scholz statt. Wie sehen Sie den aktuellen Zustand der Sozialdemokratie in Europa?
Zahlreiche europäische sozialdemokratische Parteien erlitten im zurückliegenden Jahrhundertviertel erhebliche Rückschläge. Meist profitierten rechtspopulistische, auch rechtsextreme Parteien davon. Aber schrittweise erkennen die Bürger, dass die Rechtsaußen zwar so ziemlich alles im Staat bekämpfen, für die Probleme aber keine auch nur annähernd brauchbaren Lösungen parat haben. Außerdem untergraben sie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. All das wird von den Sozialdemokraten genutzt. Ihr Einsatz für den sozialen Ausgleich stößt auf zunehmendes Interesse, wie zuletzt in Deutschland und Italien erkennbar.

Bei der hiesigen SPÖ scheint das anders zu sein…
In Österreich sehen wir, dass das Scheitern des Herrn Kurz zumindest in den Umfragen Wirkung zeigt. An Inhalten hat die Sozialdemokratie keinen Mangel. Nur darf sie sich nicht den Luxus leisten, nach außen uneinig aufzutreten. Wenn es verschiedene Meinungen gibt, ist das in einer dynamischen Gesellschaft nur zu begrüßen, aber der nächste Schritt muss gegangen werden – nämlich diese einander womöglich widerstrebenden Meinungen zu einem gemeinsamen Standpunkt zusammenzuführen, von mir aus auch zusammenzustreiten. Nur muss das so geschehen, dass man in der Öffentlichkeit nicht ein Bild abgibt, das vom Bürger negativ beurteilt wird.

Warum gelingt das in Österreich bisher nicht?
Ich glaube, dass für die Sozialdemokratie in Österreich der Zeitpunkt längst gekommen ist, zu verstehen, dass man mit Uneinigkeit den Bürger nicht so überzeugt, als wäre man eine gut funktionierende, harmonisch arbeitende Mannschaft.

Sie sind der letzte Bundeskanzler Österreichs, der aus freien Stücken zurückgetreten ist. Diese Haltung des selbstbestimmten Abgangs ist Ihren Nachfolgern nicht gelungen. Erst vor wenigen Tagen ist Sebastian Kurz zurückgetreten. Wie ist es Ihnen gegangen, als Sie von den Chats gelesen haben?
Meine Gefühlslage war in einer Bandbreite von erstaunt bis angewidert, das habe ich nicht für möglich gehalten. Wobei zur Wortwahl auch noch die Dummheit dieser Leute hinzugekommen ist, zu glauben, dass das geheim bleibt.

Eigentlich haben sie Mitterlehner den türkisen Wölfen überlassen.

Heißt das im Umkehrschluss, früher hat es so etwas auch gegeben, nur wurde man eben nicht dabei erwischt?
Das würde ich so nicht sagen. In meiner Amtszeit und meiner Umgebung, bei den Mitarbeitern, Kabinettschefs und Ministerkollegen, war so eine Wortwahl wie etwa über Mitterlehner nicht denkbar. Die Politik ist ein hartes Geschäft, es werden nicht nur Schmeicheleinheiten ausgetauscht, aber es ist ein Unterschied zwischen einer kämpferischen Sprache auf der einen Seite und einer bis an die Obszönität grenzende Wortwahl auf der anderen. Den Unterschied muss man kennen und auch einhalten.

Abgesehen von der Wortwahl offenbaren die Chats den klaren Plan, an die Macht zu kommen. Wie nehmen Sie das wahr?
Ich habe mich immer gewundert, warum von schwarzer ÖVP-Seite niemand für Mitterlehner Partei ergriffen hat. Eigentlich haben sie ihn den türkisen Wölfen überlassen.

Zuletzt haben Sie mit der Forderung überrascht, dass Türkis-Grün nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz weiterarbeiten soll. Warum das?
Natürlich bin ich kein glühender Verehrer dieser Regierung, aber wir waren in einer einigermaßen risikoreichen Situation: ein Bundeskanzler, der über Nacht dazu bewegt wird, sein Amt zurückzulegen – und eine Opposition, die auslotet, ob ihr eine Regierungsbildung möglich ist. Das gehört alles zur Demokratie dazu, man kann von der Opposition nicht erwarten, dass sie ihre Hände in den Schoß legt und abwartet. Auf der anderen Seite ist diese Regierung aber in einer hohen Verantwortung, gerade was die Klimafrage, die Pandemie und nicht zuletzt die Wirtschaftspolitik betrifft. Man muss verlangen, dass sie diese Verantwortung auch weiter trägt.

Hatten Sie jemals ein längeres Gespräch mit Kurz?
Ein einziges Mal. Da wurde ich von ihm zu einem Mittagessen ins Bundeskanzleramt eingeladen, aber darüber gibt es nichts zu berichten.

Sie haben Reinhold Mitterlehner angesprochen. Vertritt er die Haltung, die Sie meinen?
Mitterlehner hat sogar ein Buch mit dem Titel „Haltung“ geschrieben. Aus meiner Sicht hat er Haltung bewiesen. Selbst als er bereits zurückgetreten ist, danach über das Geschehene gesprochen hat und ihm daraufhin seine innerparteilichen Gegner noch Steine nachgeworfen haben, ist er von seiner Meinung nicht abgewichen.


Das Interview erschien am 4. November 2021 in der Wochenzeitung Die Furche.

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