FREIGEDACHT

Das Marchfeld

6. März 2021

Was ist das Besondere am Marchfeld, diesem rauen, relativ uncharmanten, von wenig Erhebungen beglückten, im Osten liegenden Wilden Westen Österreichs? Es ist eine scheinbar unendlich weite von Natur- in Agrarflächen umgewandelte Ebene. Ein Flachland, das an manchen Tagen und an bestimmten Orten nur an der Farbe des Bodens von der Marsoberfläche zu unterscheiden ist. Vielmehr trägt es den Charakter einer Aneinanderreihung von Mondlandschaften. Dazwischen liegen Ackerflächen, wie als wären sie ein Spielfeld für sämtliche Umwelteinflüsse. Eine Art Feier der meteorologischen Ereignisse, mit dem Wind als nahezu ständigem Gast.

Ein Gast, von unzähligen Rädern genutzt, um dessen Energie in elektrische umzuwandeln. An manchen Tagen faszinieren mich die rotierenden Leuchtobjekte und ergänzen das Landschaftsbild auf eine perverse Weise, in manchen Nächten ist meine Sehnsucht nach einem dunklen Nachthimmel groß und ich fühle mich wie Don Quijote. Die von der Wiener Stadtgrenze bis nach Bratislava gleichgeschaltet rot in die Nacht blinkenden Windräder führen mich immer wieder zum Gedanken einer außerirdischen Invasion. Wie als würden Raumschiffe einer fernen Zivilisation in beeindruckender Zahl auf dem Planeten zu ihrem Landeanflug ansetzen. Kämen sie in böser Absicht? Ziemlich sicher nicht, gibt es hier neben Sand in den Augen nicht viel zu holen. Das Marchfeld wäre gar nicht das Ziel der Außerirdischen, sie würden es nur als Landebahn benützen, weil es vom Weltraum betrachtet wahrscheinlich wie eine gigantische Landebahn aussieht, um von dort dann in den Rest von Österreich vorzudringen. 

Apropos Rest von Österreich: Wieso so hochnäsig, wenn über die Ebene, die im Osten von der March und im Süden von der Donau begrenzt ist, gesprochen wird? Das Marchfeld mag wenig Charme besitzen, aber essentiell ist es allemal. Ist es doch die Kornkammer Österreichs und größter Gemüselieferant der Hauptstadt der Republik. Zudem, so hat einmal ein Bauer aus diesem Gebiet gesagt, würde es halb Wien nicht geben, hätte hier kein Schotter- und Kiesabbau stattgefunden. Die Vergangenheitsform stimmt nicht, Schottergruben gibt es noch immer en mass. Was wiederum nicht unbedingt zur guten Luftqualität beiträgt. Mit der Marchfelder Luft ist es fast wie mit Spaghetti alle vongole: Nur, wenn man ein bisschen Sand zwischen den Zähnen spürt, ist sie frisch. Also die italienische Mahlzeit, die Marchfelder Luft ist vielmehr an Feinstaub reich. Hat auch etwas. Etwas Gesundheitsgefärdendes zum Beispiel. Aber wer weiß schon, welcher Gefährdung man sich aussetzen würde, äße man täglich Spaghetti alle vongole? Eben. 

Fast drei Jahrzehnte ist mir das Marchfeld nun schon vertraut. Also quasi mein ganzes Leben. Was ich persönlich hier während der letzten Jahre zu schätzen gelernt habe, ist die Ruhe im Sturm. Sie ist konstant und stetig, wie ein Hochseedampfer am Beginn der touristischen Schifffahrt. Mit schnellen Manöver ist nicht zu rechnen. Das hat auch etwas Beruhigendes, zumal es hier auch keine Eisberge gibt. Außerdem schützt diese unglaubliche Ruhe vor Veränderung. Abgesehen von den Wohnbauten, die aus dem Boden wachsen, als wäre in den Jahren davor zu viel gedüngt worden. Viele Menschen aus Wien betreiben daraufhin Stadtflucht und empfinden es zunehmend als Landfluch. Sie ziehen aufs Land und regen sich dann darüber auf, dass es am Land ist, wie es am Land halt ist. Eine skurrile Entwicklung, auch irgendwie außerirdisch. 

Was ist nun das Besondere am Marchfeld? Vielleicht ist das Besondere, dass hier nichts besonders ist. Man müsste es nur akzeptieren. Oder man versucht, etwas zu verändern und wirbelt damit noch mehr Staub auf. Man kann diesen bis in die letzte Konsequenz gelebten Konservatismus, der allen versuchten Veränderungen den Zauber des Anfangs verweht, auch schätzen. Er wirkt beruhigend in dieser schnelllebigen und ununterbrochen von Veränderungen geprägten Zeit. Er macht das Marchfeld zu einer Insel der Entspannung, zu einer Ebene des Stillstands, zu einem Hort der Einfalt. Wie als wäre diese Region ein in Landschaft, Lebensstil und Gedankengängen manifestierter Gegentrend zum Rest der pulsierenden Welt. Nicht weil es irgendjemandes Ziel wäre, sondern weil es einfach so ist. Eine Art unumstößlicher Fakt. Falls es mir aber wieder einmal zu viel des Guten wird, setze ich mich in der Nacht aufs freie Feld und hoffe auf eine Entführung durch eines der unzähligen außerirdischen Raumschiffe.


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