Keine öffentlichen Glückwunschbekundungen befreundeter Parteien anderer Länder, keine Euphorie in den sozialen Medien, fast nur nüchterne bis kritische Berichterstattung deutschsprachiger Medien. Eigentlich sollte man denken, Nüchternheit und kritische Berichterstattung sei eine der Grundvoraussetzungen bei unabhängigen Medien.
Als sich Barack Obama 2008 gegen seine innerparteiliche Konkurrentin Hillary Clinton durchsetzte und nach seiner Wahl zum Kandidaten der US-Demokraten Deutschland besuchte, schrieben die Zeitungen vom „Warten auf den Heilsbringer“, von der „Ankunft des Messias“ oder gar vom „Dalai Obama“. Annett Meiritz nennt den Hype um den ersten Afroamerikaner im US-Präsidentenamt in ihrem aktuellen Kommentar im Spiegel Online folgerichtig „Obamania“. Was ist bei Hillary Clinton anders? Eine durchwegs konsequente, karriere- und selbstbewusste Politikerin wurde erstmals als Frau zur Kandidatin einer der beiden großen Parteien der USA gewählt. Man könnte annehmen, an diesem historischen Tag gäbe es im Sinne der Frauenrechte für ebenso viel Freude und Ekstase die Berechtigung.
ZERKRATZTER LACK UND MANGELNDES CHARISMA
Hillary Clinton war Rechtsanwältin, Senatorin und Außenministerin. Sie durchlebte währenddessen mehrere politische Krisen wie den Bürgerkrieg in Libyen, den in dieser Folge stattgefundenen Botschaftsangriff in Bengasi oder auch die Lewinsky-Affäre ihres Mannes, den damaligen US-Präsidenten. Alles stand sie durch, bei allem ging sie erhobenen Hauptes hervor. Nur die Tatsache des Verschickens von insgesamt 30.000 dienstlichen E-Mails über einen privaten Server während ihrer Zeit als Außenministerin verfolgt sie, wie ein langer Schatten. Lange Schatten werden nur geworfen, wenn die Lichtquelle besonders tief steht. Doch wieso steht die Lichtquelle, die Hillary Clintons politische Karriere beleuchtet, so tief? Während der letzten Jahre, in denen Clinton in der Öffentlichkeit stand, boten sich viele Gelegenheiten und viel Zeit für Kratzer in ihrem politischen Lack. Einige davon sind scheinbar nicht zu verdecken.
Was der geborenen Hillary Rodham hingegen fehlt – und in dieser Hinsicht sind sich nahezu alle Beobachter einig – ist das nötige Charisma. Gegenüber ihren demokratischen Vorgängern Barack Obama und Bill Clinton wirkt sie teilweise kühl, roboterhaft und wenig elektrisierend. Diesen fehlenden Enthusiasmus kann sie daher auch nicht auf ihre möglichen Wählerinnen und Wähler übertragen. Obwohl Hillary Clinton nachgesagt wird, sie sei eine sehr gute Zuhörerin und nehme ihr Gegenüber ernst, wird diese äußerst nützlich Fähigkeit letzten Endes nicht reichen, um eine Wahl zu gewinnen. Schon gar keine Wahl zur wahrscheinlich mächtigsten Frau der Welt. Ihrem politischen Gegner mangelt es zwar ebenso am nötigen Charisma, dieser kompensiert dieses Defizit allerdings mit Lautstärke und persönlichen Angriffen. In einer Zeit der subjektiven Unsicherheit nicht das schlechteste Rezept für Wahlwerber. Donald Trump schafft es, mit seinen provozierenden, penetranten Auftritten Stimmung zu machen, Angst zu schüren und schließlich so unzählige Unterstützer und potenzielle Wähler hinter sich zu versammeln. Auch Bernie Sanders, ihr ehemaliger innerparteilicher Konkurrent, hat Clinton gezeigt, wie man Massen begeistert. Ein lauter, aber auch smarter älterer Herr, der für Veränderung steht.
Die Demokratin, und zeitgleich der personifizierte einzige Ausweg zur Trump-Präsidentschaft, steht als ehemalige First Lady und als ehemaliges Mitglied der Obama-Administration aber vielmehr für das Establishment. Nur mit Hilfe einer breiten politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Bewegung wird es ihr gelingen, den Ausgang der 58. Wahl des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika am 8. November 2016 für sich zu entscheiden.
„STRONGER TOGETHER“ ODER GEMEINSAM GEGEN TRUMP
Ähnlich wie bei Österreichs Bundespräsidentschaftskandidaten Alexander Van der Bellen versammelt sich in den USA alles mit Rang und Namen hinter Hillary Clinton. Unterstützung, die sie bitter notwendig hat. Ihr vorheriger Konkurrent Bernie Sanders, der es wie kein anderer verstand, eine politische Bewegung ins Leben zu rufen und auch die Jugend zu mobilisieren, der amtierende US-Präsident Barack Obama, die beiden früheren US-Präsidenten Bill Clinton und der 91-jährige Jimmy Carter stellen sich hinter die offizielle Kandidatin der Demokraten. Ebenso die Schauspielerinnen und Schauspieler Meryl Streep, Elizabeth Banks, Tony Goldwyn, Kerry Washington, Bryan Cranston, Olivia Wilde, Julianne Moore, Mark Ruffalo sowie die Sängerinnen Alicia Keys, Katy Perry oder Lady Gaga. Manche aus voller Überzeugung, manche um einen Präsidenten Trump zu verhindern. 9/11 Überlebende und Ersthelfer treten ebenso als ihre Unterstützer auf.
Ob in Ermangelung des eigenen Charismas und des Vorhandenseins der Kratzer im politischen Lack eine derart bunte Bewegung ausreichen wird, um die Wahl im Endeffekt für sich zu entscheiden, wird erst in ein paar Wochen klar sein. Clinton wird ihre zweite Chance bestmöglich nutzen, die nahezu nicht vorhandene Euphorie wird später zu ihrem Vorteil werden.
NIEDRIGE ERWARTUNGEN ALS CHANCE
Sollte Hillary Clinton die nächste Präsidentin der Vereinigten Staaten werden, wird ihr die verhaltene Stimmung ihrer Person gegenüber nur zugutekommen. Ich gehe noch einen Schritt weiter, sie wird nach der Wiederwahl und vollen acht Jahren an der Spitze der Vereinigten Staaten sich als eine der beliebtesten US-Präsidentinnen im Vergleich zu ihren männlichen Vorgängern in die Reihen derselben begeben. Obama wurde nach seinem Amtsantritt so hoch gelobt, dass zeitweise bittere Enttäuschung ob seiner Politik und den damit verknüpften Erwartungen herrschte. Die Erwartungen der Bevölkerung und der Medien Hillary Clinton gegenüber sind so niedrig, dass die routinierte Vollblut-Politikerin in ihrer Rolle als Zuhörerin und Gestalterin aufgehen wird. „There are show horses and there are work horses. She is a work horse“, sagte John Dolan, einer der First Responder bei 9/11. Er mag recht haben, das Schauspiel liegt ihr nicht. Oft wirkt Clintons Verhalten auf Wahlkampfveranstaltungen oder anderen öffentlichen Auftritten zu gestellt oder gar holprig. Das Arbeiten liegt ihr offenbar schon, dies zeigt der – bei aller berechtigter Kritik – beeindruckende politische Lebenslauf.
Hillary Clinton wird sich in ihrem Amt und Ansehen genauso etablieren, wie die zurückhaltende und sachlich agierende deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Clinton ist der Gegenpol zu einem tobenden, reflexartig handelnden und polarisierenden Kandidaten Trump, und wird auch als 45. Präsidentin der USA und erste Frau in diesem Amt zur erfahrenen, beliebten und in großen Teilen der Bevölkerung anerkannten Amtsträgerin werden.