Zum ersten Mal aufgefallen ist mir der weltoffene, geistreiche und ausgesprochen humorvolle Bischof bei der Firmung meiner damaligen Freundin, die erst einige Jahre später als der herkömmliche Firmling den Heiligen Geist empfing. Bis dahin war ich schon in einigen katholischen Messen, aber diese spezielle Art, eine ebensolche zu zelebrieren, habe ich hier zum ersten Mal erlebt. Erst Jahre danach wurde mir bewusst, wer dieser Weihbischof war und welchen Stellenwert er in der österreichischen katholischen Kirche nach wie vor hat.
Aufgrund seines beeindruckenden Lebenslaufs und meinem Wunsch, diese Persönlichkeit kennenzulernen, habe ich es vor wenigen Jahren mit einer Interview-Anfrage per Mail versucht, die leider unbeantwortet blieb. Wie ich später erfahren habe, ist er zu diesem Zeitpunkt schwer gestürzt und lag im Spital. Vor wenigen Wochen habe ich noch einen weiteren Anlauf versucht, der einen Anruf seiner Sekretärin Frau Kub zur Folge hatte. Es tue ihr sehr leid, aber der Bischof sei nicht mehr in der Lage, Interviews zu geben. In einem längerem Telefonat schilderte ich der Sekretärin, wie ich den Weihbischof vor einigen Jahren kennenlernen und erleben durfte. Abschließend fragte ich, ob ein Besuch bei ihm möglich sei. Die Dame am Telefon wirkte erfreut ob meiner Frage und sagte sofort zu. Am 31. Jänner 2023 durfte ich DDr. Helmut Krätzl, den emeritierten Weihbischof Wiens, in seiner Wohnung am Stephansplatz besuchen, um mit ihm über wichtige Fragen des Lebens zu sprechen. Da es sich nicht um ein Interview handelte, darf und werde ich das Gesprochene nicht veröffentlichen. Jedoch ist es mir ein Anliegen, einen Einblick zu geben, in eine Begegnung des gegenseitigen Respekts und der Neugier, aus der ich viele Gedanken und Sichtweisen mitnehmen konnte:
Obwohl es heute im Vergleich zu den Tagen davor recht mild ist, macht der Sturm die 4°C plus relativ unangenehm. Mit der U1 fahre ich bis zur Station „Stephansplatz“, überschreite denselben, vorbei an unzähligen Touristen, bis zu einem großen Tor. Um bei diesem die Klingel mit der Aufschrift „DDr. Krätzl“ zu betätigen. Den Lift lasse ich ruhen, nehme die Stufen durch das historische Stiegenhaus in den zweiten Stock. Oben angekommen, öffnet mir Frau Kub auch schon die Türe, der ich als Dankeschön einen Blumenstrauß überreiche. Sie ist seit Jahrzehnten die Sekretärin des mittlerweile emeritierten Weihbischofs. Als mir das der Geistliche später im Gespräch erzählt, heben sich seine Mundwinkel und es ist ein Leuchten in seinen Augen zu erkennen. Er ist dankbar für ihre jahrelange Unterstützung. Im Zimmer weiter sitzt er auch schon hinter einem alten, großen Schreibtisch vor einem Fenster, durch das man direkt auf den Stephansdom blickt. Die Leselampe setzt ihn in einen Lichtkegel und macht den Bischof somit zum scheinenden Mittelpunkt des Raumes. Er trägt eine dunkelblaue Strickweste, die Brille sitzt auf der Nase, der Blick ist auf den Schreibtisch gerichtet. Vor ihm liegen mehrere Tageszeitungen, in der Hand hält er eine Lupe. Es ist sehr ruhig, nur meine Schritte auf dem historischen Holzboden durchbrechen diese Stille und auch Helmut Krätzls Gedanken. Er blick auf und nimmt die Brille ab. Während unseres Gesprächs blitzt der der Öffentlichkeit bekannte, kritische, weltoffene und fast schon schelmische Helmut Krätzl mehrmals durch. Seine Stimme erhebt sich immer wieder und wird deutlich, als würde er bewusst für ganz bestimmte Aussagen seinen gesamten Rumpf als Resonanzkörper nutzen.
Aus dem Einstieg ins Gesprächs möchte ich doch zitieren.
Helmut Krätzl: “Aus welcher Pfarre sind Sie?“
Ich: “Ich bin nicht katholisch.“
Helmut Krätzl: „Sondern?“
Ich: “Ohne Bekenntnis.“Stille.
Ich: “Aber Sie sind ein weltoffener Mensch, Sie werden mich nicht gleich wieder hinausschmeißen.“
Helmut Krätzl: “Meinen Sie?“Wir lachen beide.
Vor mir sitzt ein körperlich schwacher, hochbetagter Mann, der Nahrung nur mehr püriert zu sich nehmen kann und dem das Sprechen zeitweise sehr schwer fällt. Er sagt selbst, dass er sich an Vieles aus seinem Leben nicht mehr erinnern kann. Dabei hilft ihm dann Frau Kub. „Sie weiß alles, was ich nicht mehr weiß“. Er ist sich bewusst über seinen körperlichen und geistigen Verfall. Immer wieder fällt mir aber auf, wie zufrieden und im Reinen er mit sich und seiner aktuellen Situation ist. Hat er doch genau diesem Thema vor einigen Jahren ein Buch gewidmet. “Geschenkte Zeit. Von der Kunst älter zu werden“. Trotz seiner körperlichen Gebrechlichkeit, erlebe ich einen geistig wachen Helmut Krätzl. Er beantwortet nicht nur meine Fragen, sondern ist auch an meinem Leben und meinen Sichtweisen interessiert. Wir sprechen über die katholische Kirche, wie sich die Rolle dieser in unserer Gesellschaft während der letzten Jahrhunderte verändert hat, das aktuelle Buch des Papst-Sekretärs Gänswein, Benedikt XVI. Rolle nach dessen Rücktritt, meinen Beruf als Kindergartenpädagogen und ganz allgemein über die Neugier als treibende Kraft im Leben. Zudem erzählt er mir von seinen beiden Pflegern – einer ist „streng katholisch“, der andere „Esoteriker“ -, die ihn jeden Sonn- und Feiertag in den Stephansdom in die Messe bringen. „Weit haben Sie es ja nicht“, entgegne ich mit einem verbalen Augenzwinkern. Der Bischof stimmt mir lächelnd zu.
Am 2. Mai 2023 ist DDr. Helmut Krätzl, der emeritierte Weihbischof Wiens, im 92. Lebensjahr verstorben. Eine Freundin nannte ihn einmal eine „Leuchtfigur unter den Bischöfen“. Ein Mann mit Weitsicht, wachem Geist und feinem Humor bis zuletzt. Auch der Tod war übrigens Thema unseres Gesprächs. „Je älter ich werde, umso größer wird meine Neugierde“, hat er einmal in einem Interview zu seinem 90. Geburtstag gesagt. Ich wollte von ihm wissen, ob er auch neugierig auf den Tod ist. Plötzlich war es wieder da, das Leuchten in seinen Augen. „Natürlich!“
Die Erzdiözese Wien über Helmut Krätzl:
https://www.erzdioezese-wien.at/weihbischof-helmut-kraetzl
Nachruf auf Helmut Krätzl:
https://religion.orf.at/stories/3206066/