FREIGEDACHT

Im Zweifel für den Respekt

1. Oktober 2017

Einige halten mich bestimmt für verrückt. Meinen Eltern zeige ich immer wieder beruhigend die Option auf, dass andere in meinem Alter den Drogen verfallen sind. Wenn mich etwas interessiert, wenn mich etwas reizt, wenn mich etwas in den Bann nimmt, lässt es mich nicht mehr los. Meistens sind das in meinem Fall Persönlichkeiten,  die eine im globalen Vergleich einzigartige Geschichte hinter sich haben, in der sie zum größten Teil selbst Regie führten. In neun von zehn Fällen weisen diese Individuen ein – gelinde gesagt – fortgeschrittenes Alter auf. Da es mir meist ein Bedürfnis ist, von bzw. über diese Personen abseits der herkömmlichen Medien mehr zu erfahren, habe ich für mich die Form des Interviews gefunden, das mir als Brücke und zum besseren Verständnis der jeweiligen Person dient.

inauguration carter

Inauguration of Jimmy Carter, 1977

„Der einzige US-Präsident, unter dessen Regierung die USA seit dem zweiten Weltkrieg in keine kriegerische Auseinandersetzung verwickelt war.“ Dieser Satz war es, der mein Interesse dem ehemaligen US-Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter gegenüber geweckt hat. Wie immer, wenn mich eine scheinbar unerreichbare Person in ihren Bann zieht, beginne ich über sie zu recherchieren. Ich informiere mich in Artikeln und Beiträgen über die Zeit, die das öffentliche Bild dieser Person ausmacht, schaue mir Interviews anderer Menschen an und versuche die Ansichten und Haltungen der Person zu verstehen. Kurz gesagt, ich lasse mich komplett auf sie ein. Mein Interesse ist dann zum Leidwesen meiner Mitmenschen über Wochen und Monate hinweg auf diese Person konzentriert. In gewisser Hinsicht werde ich sogar für ein kleines Stück zu dieser Person. Erkennbar in meiner Aussprache, in den Wörtern, die ich verwende, an meiner Gestik oder und meinen Gedankengängen. Wobei letztere meist nur mir offensichtlich sind und es auch bleiben.

Für den Sommer 2017 plante ich eine Reise an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Bevor Carter Präsident wurde, war er Gouverneur von Georgia. Atlanta liegt an der Ostküste. Meine Hirn hat kombiniert, meine Finger begannen zu schreiben. Und zwar einen Brief an den über 90-jährigen Wohltäter. Eine Interviewanfrage mit meinen Beweggründen. Wie hoch die Chancen sind, waren mir bewusst. Kein großes Medium im Hintergrund, ein No-Name aus einem kleinen europäischen Staat, der quasi nur für seine eigene Webseite schreibt und interviewt. Nichtsdestotrotz, wenn ich es nicht probiert hätte, hätte ich es bereut. Tatsächlich lag gut zwei Wochen, nachdem ich meinen Brief Richtung Carter Center in Atlanta abgesandt habe, ein Brief mit dem Logo desselben in meinem Briefkasten. Die Aufregung war dementsprechend groß, aber leider umsonst. Eine sehr freundliche, aber direkte Absage von Mrs. Beth Davis musste ich lesen. Abschließend: „President Carter sends his best wishes.“

Kurz war das Projekt-Carter für mich abgeschlossen. Nach ein paar Tagen fiel mir allerdings ein, dass ein sogenannter Türöffner vielleicht nicht schlecht gewesen wäre. Das hat schon einmal bestens funktioniert. Ich entschied mich, einen mir befreundeten Künstler damit zu beauftragen, eine Karikatur von Jimmy Carter anzufertigen. Carter hat Humor. Das Risiko, mich damit vielleicht unbeliebt zu machen, ging ich ein. Die Zeichnung sendete ich mit einer zweiten Interviewanfrage ab und errechnete mir, wenn auch trotzdem immer noch geringe, aber immerhin höhere Chancen als beim ersten Mal. Beth Davis (sie verwaltet die Agenda des Ex-Präsidenten) merkt, ich meine es ernst und ich sende ein nettes, einzigartiges Präsent mit. So der Plan. Da die Antwort diesmal mehrere Wochen auf sich warten ließ und ich dies als gutes Zeichen wertete, wuchs meine Hoffnung.

Das selbe bittersüße Schauspiel wie beim ersten Mal fand statt, als der Brief kam. Eine freundliche, aber direkte Absage fand sich in meinem Briefkasten. „President Carter has asked me to express his gratidude to you for your fervor and sends his best wishes and thanks for the gift.“

In der Zwischenzeit hat mir ein befreundeter Schuldirektor aus Deutschland erzählt, er habe vor ein paar Jahren einen Bericht in einer deutschen Tageszeitung gelesen, in dem von Jimmy Carters sonntäglicher Beschäftigung geschrieben stand. Angeblich hält er immer wieder sonntags Reden in der Kirche seiner Heimatgemeinde. Ein paar Tage später sendete er mir schon den Link zum Artikel und ich begann weiter zu recherchieren. Offenbar war meine eigene Recherche nicht intensiv genug. Die Möglichkeit, an diesem Ereignis teilzunehmen, eröffnete mir persönlich ganz neue Möglichkeiten. Carter spricht immer wieder an Sonntagen zu den Gästen der Maranatha Baptist Church seiner Heimatgemeinde Plains in US-Bundesstaat Georgia. Für den August waren die Daten seiner „Sunday School“, wie sich diese Aktion nennt, noch nicht auf der Webseite der Maranatha Baptist Church. Organisatorisch ließ es sich von mir aber nicht anders einteilen.

Ich buchte auf gut Glück meinen Flug nach Atlanta, um am 6. August in Plains zu sein. Entweder mit oder ohne Jimmy Carter. Schon als siebenjähriger Bub habe ich in einer etwas brenzligen Situation zur Erheiterung meiner Familie folgenden Satz geäußert: „Ma muaß a bissl Risiko eingehen im Leben.“ Erst kurz vor meinem Abflug wurden die Daten für den August bekanntgegeben. Und ja, auch der sechste August stand auf der Webseite. Meine Freude war groß. Sicherheitshalber packte ich meine vorbereiteten Interviewfragen und eine schriftlich formulierte Interviewanfrage für ihn in meinen Koffer.

Um den sechsten August landete ich Atlanta und machte mich mit dem Mietauto gut zweieinhalb Stunden auf den Weg nach Americus, der Nachbarstadt von Plains. Frühmorgens am 6. August war mein erster Weg unter die Dusche, 114um danach in mein mitgebrachtes und leicht zerknittertes Hemd und Sakko zu schlüpfen. Durch die Dunkelheit fuhr ich rund eine viertel Stunde zur Maranatha Baptist Church. Nach längerem Herumirren in der kleinen Ortschaft kam ich am Parkplatz an. Dort begrüßte mich schon ein freundlicher, alter Kirchen-Mitarbeiter und gab mir die Nummer 14. Er erklärte mir, mein Auto sei das vierzehnte Auto am Gelände und ich kann solange darin warten, bis wir mit dem Line-Up beginnen. Toiletten gibt’s am hinteren Ende des Geländes. Diese Nebeninformation beruhigte mich. Eigentlich war ich schon darauf vorbereitet, einige Stunden ohne Toilette – und daraus resultierend ohne Wasser – vor der Kirche in der Reihe zu warten.

geländeGut eine Stunde bevor der Ex-Präsident eintraf, rollte der Wagen des Secret Service über das Gelände und mehrere schwarz gekleideten Herren stiegen aus und untersuchten das Gelände. Jeder der unzähligen Buchsbaumgewächse um der Kirche wurde kontrolliert. Ein Hund beschnupperte jedes Auto und der Sheriff der Stadt war auch anwesend. Um zirka 5:30 Uhr war ich am Gelände, um 7:30 Uhr begann das Line-Up. Ungefähr 350 bis 400 Menschen warteten auf den Einlass. Jeder wurde von zwei Beamten des Secret Service kontrolliert. Handy und Kamera mussten bei der Kontrolle aufgedreht sein. Als der Beamte mein altes Nokia sah, war er einigermaßen überrascht und leicht begeistert: „Oh, old school. I like that!“

Endlich am Platz (dritte Reihe mit guter Sicht auf das Rednerpult) angekommen, wurden die Teilnehmer der Sunday School eine Stunde lang auf das Eintreffen Jimmy Carters vorbereitet. Der Ablauf wurde durchgespielt und die Regeln wurden uns eingepeitscht. „Nach der Messe gibt es die Möglichkeit, Fotos zu machen. Sie sprechen Jimmy Carter nicht an, außer er spricht Sie an. Sie geben ihm nicht die Hand, außer er streckt sie Ihnen hin. Sie stellen sich nur dazu, wir machen das Foto und dann gehen Sie zügig aus der Kirche. Sie befinden sich auf einem staatlich bewachten Areal. Schauen Sie, dass Sie so schnell wie möglich wegkommen. Ich bin darum bemüht, Jimmy und Rosalynn Carter hier raus zu kriegen. Sie sind beide um die 90 und sie haben Hunger.“ Die Dame war weitaus freundlicher, als es hier klingt.

Nach dieser Stunde sprach der Pastor – ein Student, der erst seit ein paar Wochen in dieser Kirche ist – noch zu uns und schloss seine Worte mit einem Gebet ab. Mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf lauschten wir seinen Worten: „(…) Und danke, dass wir heute Jimmy Carter in unserer Mitte begrüßen dürfen. Amen.“ Ich öffnete meine Augen, hob meinen Kopf und da stand er, der 39. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.

Eine gute halbe Stunde richtete der alte, aber geistig sehr wache Friedensnobelpreisträger seine Worte an die versammelte Gemeinde. Er sprach über Gleichberechtigung, Vielfalt und Friede. Er kritisierte elegant die aktuelle Nordkorea-Politik unter Trump: „We should be talking to the North Koreans, to find a common ground with them.“ Aber auch mit Obamas Umgang mit Nordkorea war er nicht zufrieden, fügte der frühere US-Präsident an. Mit der  Tatsache, dass es während der letzten zwölf Jahre keine direkte Kommunikation mit der Nordkoreanischen Führung gab, sei er nicht einverstanden gewesen.

Weiters sprach er über die wohltätige Arbeit des Carter Center, den Kampf gegen Dracontiasis, eine äußerst schmerzhafte Parasitose des Menschen durch den Guinea Worm, und seine gute Zusammenarbeit im wohltätigen Bereich mit dem früheren US-Präsidenten Gerald Ford. Danach nahm er noch auf eine Bibelstelle Bezug und ließ die Anwesenden an seinen Gedanken dazu in einer humorvollen und charmanten Art und Weise teilhaben.

Bildschirmfoto 2017-08-06 um 20.50.39Wenn man anschließend ein Foto mit den Carters möchte, musste man auch die Messe ertragen. Selbstverständlich war das mein Plan. Jimmy und Rosalynn Carter nahmen quasi neben mir Platz und lauschten auch eine gute Stunde den Worten des Pastors. Nach diesem wortreichen, teilweise aufbrausenden und einigermaßen skurrilen Erlebnis wurden die Fotos gemacht. Meine schriftliche Anfrage an Carter habe ich bereits im Auto gelassen. Wenn sich die Möglichkeit ergibt, dann frage ich ihn persönlich, dachte ich mir. Das Fotoshooting war schnell erledigt. Kurzer Smalltalk -„How are you? Good Morning. Thank you!“ – und ich nahm schon meine Kamera und war am Weg hinaus.

Ich habe mich entschieden, Jimmy Carter nach all den Bemühungen, den Strapazen, den etlichen Kilometern nicht um ein Interview zu bitten. Aus einem einzigen Grund: Im Zweifel für den Respekt. So sehr ich um in meiner Position an Interviews zu kommen, frech, direkt und ungeniert sein muss, so sehr ist es mir auch wichtig, keinen penetranten, unsympathischen und gar übereifrigen Eindruck zu hinterlassen. Der Respekt vor einem über 90-jährigen ehemaligen US-Präsidenten und Friedensnobelpreisträger ist bei mir dafür zu groß. Zudem werde ich den Tag, an dem ich Jimmy Carters Worten hautnah lauschen durfte, ziemlich lange in Erinnerung haben. Da war es mir wichtig, dass dieser Tag positiv abschließt. Meine persönliche Interviewanfrage hätte vor Ort ziemlich schnell zu einer unguten Situation führen können. Natürlich, auch zu einem Interview, aber man muss es ja schließlich nicht übertreiben.


Fotos: ©Andreas Kirchner

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