Das schrille Läuten der Türklingel hallt durch die malerische Via Del Castelletto, in der einst das Wort der Medici Gesetz war. Kurze Zeit später folgt ein angestrengt fragendes „Si?!“ aus dem obersten Stock des Hauses, dessen Fassadenverputz beinahe zur Gänze abgebröckelt ist. Die Ziegel, die nach Jahrzehnten wieder zum Vorschein kommen, werden gerade von der kräftigen Nachmittagssonne aufgeheizt. Aus einem der Fenster lehnt sich eine alte Dame mit kurzem weißen Haar und rotem Lippenstift. Mit den Unterarmen stützt sie sich auf einen kleinen Polster und blickt skeptisch nach unten. Als sie mich erkennt, weicht der strenge Blick einem breiten Lächeln und sie beginnt freudig zu winken. Während einer Reise mit meinem Auto durch Norditalien im Jahr 2019, bin ich zufällig in der Pensione Rinascente gestrandet. Genau die Pension, vor der ich jetzt wieder stehe. Die herzliche Begegnung mit der alten Dame ließ mich zwei lange Jahre und beinahe eine Pandemie später ins historische Zentrum Pisas zurückkehren. Eine Rückkehr, um eine Lebensgeschichte zu konservieren.
Es ist das Jahr, in dem Calvin Coolidge zum zweiten Mal den Eid zum US-Präsidenten ablegt, Werner Heisenberg seine Pionierarbeit zur Quantenmechanik veröffentlicht, Charlie Chaplins Film The Gold Rush in New York uraufgeführt wird, Benito Mussolini die Einparteiendiktatur der Faschisten in Italien installiert und auf Elba, einer zum Toskanischen Archipel gehörenden Mittelmeerinsel, ein Mädchen das Licht der Welt erblickt, vor dem ein langes und spannendes Leben liegt. Am 15. August 1925 wird Pina, im vollen Namen Giuseppina Ferrigno, als erstes Kind einer wohlhabenden Familie geboren. Fünf Jahre später mieten ihre Eltern ein Haus in Pisa, in das die Familie einzieht, zwei weitere Kinder bekommt und mit der Zimmervermietung an Studenten beginnt. „Meine Mutter hatte den Traum, eine Pension zu betreiben und hat sich in Pisa nach einem Haus umgesehen und sich für dieses entschieden“, erzählt die heute 96-jährige Italienerin, die mir über einen elektrischen Türöffner das grüne Eingangstor aufmacht und mich im zweiten Stock freudig begrüßt. Obwohl wir beide zwei Sprachen sprechen, aber eben nicht dieselben, führen wir sofort ein sympathisches Begrüßungsgespräch. Sie spricht Italienisch und wiederholt das Gesagte mehrmals langsam, ich nutze den Übersetzer am Handy. Es dauert, aber meistens funktioniert die Kommunikation. „Als ich die Schule besuchte, hatte Englisch noch nicht den Stellenwert, den es heute hat. Wir lernten Französisch als Fremdsprache“, erklärt sie mir. Danach setzt sich Pina an den Tisch der Rezeption, an dem sie schon seit 77 Jahren Gäste begrüßt und verabschiedet. Als ihre Mutter 1944 an Tuberkulose stirbt, übernimmt sie als älteste Tochter der Familie mit gerade einmal 19 Jahren direkt nach der Schule die Leitung der Pensione Rinascente und wird somit auch zur Mieterin des Hauses. In den folgenden beinahe acht Jahrzehnten wird sie die Immobilie nicht erwerben. Investiert hat sie im Laufe der Zeit in Renovierungsarbeiten und Aufwertungen der Gästezimmer, darunter fallen Toiletten und Duschen, die sie in manche davon einbauen lässt. Der Charme der Vergangenheit bleibt allerdings immer erhalten. Eine junge Frau aus der Schweiz, die einige Tage nach mir in der Pension ankommt, erkundigt sich bei der greisen Gastgeberin begeistert nach der Einrichtung in den Zimmern. „Die Möbel im Haus sind alle noch aus der Zeit meiner Eltern“.
Obwohl sich Pina die 96 Jahre manchmal selbst nicht glaubt, fällt ihr der Berufsalltag in der Pension immer schwerer. Den Übergang ins Computerzeitalter hat sie nicht mehr geschafft. Dafür hat sie Hilfe von Valerio, der hauptberuflich selbst in einem anderen Hotel in Pisa als Rezeptionist arbeitet. Er kommt jeden Abend gegen 19 Uhr in die Pensione Rinascente, um die administrativen Arbeiten am Computer zu erledigen und nach Pina zu sehen. So auch während meines Aufenthaltes. Immer wieder wird er dabei mehr oder minder freiwillig zum Übersetzer zwischen Pinas Italienisch und meinem Englisch. Eine gute Gelegenheit für mich, mit meinen Fragen ein bisschen mehr ins Detail zu gehen. Wir lachen viel während der Gespräche, die beiden verstehen sich merklich gut. „An den kleinen Dingen erkennt man die Empfindsamkeit eines Menschen“, wirft sie ihm als Kompliment entgegen. Eigene Kinder hat Pina nicht, die letzte Liebe liegt schon lange zurück. „Vielleicht etwas zu lange“, gesteht sie leicht schwermütig. Zu ihrem Äußeren hat sie eine klare Meinung. „Mein Gesicht war nie das einer schönen Frau, es ist mehr ein Charaktergesicht. Dafür war mein Körper immer sehr attraktiv, vor allem meine Beine und Brüste!“, ergänzt sie hellauf lachend.
Das letzte Jahr während der Pandemie muss schwer für sie gewesen sein. Die italienische Regierung stellte zwar eine finanzielle Unterstützung bereit, aber die Gäste blieben über Monate komplett aus, es kam quasi kein Geld herein. „È stato un disastro!“, sie hat während dieser Zeit viel geweint. Aber eigentlich möchte sie kein Drama aus der Geschichte machen, sie spricht lieber über die schönen Dinge. Wie zum Beispiel über ihre unzähligen Reisen um die Welt. Besonders oft schwärmt sie von Norwegen, Wien und New York, aus dem sie einen Regenschirm als Souvenir mitgenommen hat, der ihr heute als Gehstock dient. Am letzten Abend gewährt sie mir noch Einblick in ihr eigenes Zimmer, das für Gäste eigentlich tabu ist. Ein Schild mit „The Boss“ hängt an der alten Holztüre, die schon unzählige Menschen aus der ganzen Welt an ihr vorbei wandeln gesehen hat. Dahinter wartet ein Raum, der Privatbereich und Museum zugleich ist. An den Wänden hängt ein Foto, das Pina als Baby zeigt, eines als 16-Jährige in den Straßen von Pisa, ihre Eltern und sogar ihren Großvater. Auch ihre ersten Kinderschuhe aus Leder zeigt sie mir. Auf ihrem Nachttisch entdecke ich eine kleine, braune Figur. „Der Gott des langen Lebens“, sagt sie mit einem Augenzwinkern, während sie die Statuette der daoistischen Gottheit Shou Xing in ihre Hände nimmt und fest an sich drückt.
Nicht mehr alle Gäste sind vom Charme der Pension und seiner Betreiberin überzeugt, erzählt mir Valerio etwas zerknirscht. Natürlich geht hier alles ein bisschen langsamer, wenn Pina die Daten der anreisenden Gäste aufnimmt, Parktickets ausstellt oder in ihrem Kalender blättert, um die Verfügbarkeit der Zimmer zu prüfen. Zudem ist diese Bleibe weit von einem Fünf-Sterne-Hotel entfernt. Aber genau das ist es, was die Pensione Rinascente ausmacht. Der Aufenthalt hier ist eine Reise in eine Vergangenheit, die im Hier und Jetzt lebendig existiert. Wenn man sich darauf einlässt, begleitet einen die beinahe Einhundertjährige auf dieser Reise sehr offen und liebevoll. Obwohl sie natürlich auf das Geld der Gäste angewiesen ist, ist es nicht das Wichtigste für sie. „Die Gäste sollen glücklich sein“, wiederholt Pina immer wieder und ich spüre, dass sie es ernst meint. Abschließend frage ich noch, auf was es im Leben ankommt. „Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit“, die Antwort kommt schnell.
Mit einem Strauß Sonnenblumen verabschiede ich mich nach einer Woche bei der stets elegant gekleideten Italienerin, die mit jeder Bewegung und jedem Blick Grazie ausstrahlt, im Geiste jung geblieben ist und sich ihren Charme und Witz bis ins hohe Alter behalten hat. Sie bedankt sich für unsere guten Gespräche während der letzten Tage, die ihr es noch einmal ermöglicht haben, eine Reise durch ihr eigenes Leben zu machen. Der Abschied ist ein schwerer, wir weinen beide.